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06.06.2025
Annika Schlingheider war im April und Mai 2025 als Schutzbeauftragte bei einem Einsatz unseres Bündnisschiff Humanity 1 an Bord. Hier veröffentlichen wir den zweiten Teil ihrer Tagebucheinträge. Den ersten Teil können Sie hier nachlesen.
7.-8. Mai: Mittelmeer
Wir sind wieder auf See und fast im Einsatzgebiet angekommen. Wir haben die Musik laut aufgedreht, das Deck geschrubbt, Debriefings zu den Abläufen während der ersten Rettung abgehalten und sind jetzt wieder „ready for rescue“.
9. Mai: Rettung
Die Stimmung bei uns an Bord ist angespannt. Am Nachmittag des 9. Mai bekommen wir Nachricht von Alarmphone über einen neuen Seenotfall. Alarmphone ist eine ebenfalls von der Zivilgesellschaft betriebene Notrufnummer für Menschen, die sich in Seenot auf dem Mittelmeer befinden. Wir befinden uns im maltesischen Such- und Rettungsgebiet und eigentlich ist die maltesische Seenotrettungsleitstelle für die Koordinierung der Rettung zuständig – doch sie reagiert, wieder einmal, nicht auf die Notrufe der Geflüchteten. Nur deswegen müssen wir überhaupt hier im Einsatz sein.
Wir machen uns auf den Weg zur letzten bekannten Position des Seenotfalls und suchen den Horizont mit Ferngläsern ab. Endlich schlägt unser Lookout Alarm: Wir haben Sicht auf ein blaues Holzboot, eine tanzende Nussschale auf den Wellen. Man sieht sofort: Die Situation ist leider hochgefährlich. Das Boot ist völlig überladen und liegt instabil im Wasser – jeden Moment kann es kentern. Das wäre der worst case. Sobald Menschen im Wasser sind, bleiben nur wenige Minuten, vielleicht Sekunden, um sie zu retten. Die Menschen tragen in der Regel keine oder nur behelfsmäßige Rettungswesten und viele können nicht schwimmen. So schön das Meer ist, so brutal ist es auch.
Außerdem hat diese Art von Holzboot meistens ein Unterdeck, in dem oft viele Menschen zusammengepfercht ausharren, mit wenig Sauerstoff – und vielen Abgasen. Nicht selten können Menschen aus diesen Unterdecks nur noch tot geborgen werden.
All das schießt mir durch den Kopf, als ich an Deck der Humanity 1 stehe, während unsere RHIBS zu Wasser gelassen werden. Es ist eine unwirkliche Szene: Ein atemberaubender, rosa-orange leuchtender Sonnenuntergangshimmel erstreckt sich über dem Mittelmeer, während das kleine Holzboot auf den immer dunkler werdenden Wellen hin- und hergeworfen wird. Das Wetter wird zunehmend schlechter, selbst auf unserem großen Schiff muss ich mich an der Reling festhalten, um nicht umzufallen. Ich höre die Hilferufe der Menschen bis auf unser Deck auf der Humanity 1. Heute weiß ich, dass auf diesem Boot auch Omar, Jonas, Sarah sitzen. Was haben sie in diesem Moment gedacht?
Es beginnt eine kritische Rettungsaktion, bei der Leben und Tod nah beieinander liegen. Unsere RHIBS nähern sich dem Boot von zwei Seiten. Das soll verhindern, dass die Menschen das ohnehin schon instabile Boot durch Bewegungen weiter ins Ungleichgewicht bringen. Wir zittern mit, während unsere RHIB-Crew die Menschen einen nach dem anderen vom Holzboot herunterholt. Zwei Personen fallen bei hohem Wellengang ins Wasser. Zum Glück können sie von unserem erfahrenen Team schnell aus dem Wasser gezogen werden.
Nach zweieinhalb Stunden, die endlos erscheinen, sind 125 Menschen, Frauen, Männer, Kinder, bei uns an Bord der Humanity 1. Drei von ihnen sind sehr schwach und müssen medizinisch betreut werden. Aber sie sind sicher bei uns an Bord. Alle. Mir läuft es kalt den Rücken herunter, während ich mir vorstelle, was mit diesen Menschen gewesen wäre, wenn in dieser Nacht keine Hilfe gekommen wäre.
Es sind herzzerreißende Szenen, die sich nach der Rettung an Deck abspielen: Viele der Menschen fallen auf die Knie, beten, danken. Dieses Mal kommen viele von ihnen aus Eritrea, Äthiopien/Tigray, Sudan, Somalia und Ägypten. Die Kriege und Konflikte dieser Welt spiegeln sich in den Menschen auf diesem Deck wider. Einige der Eritreerinnen und Eritreer haben einlaminierte, bunt gedruckte Bilder von Jesus, Maria oder Heiligen dabei. Jetzt halten sie sie in die Höhe, küssen sie. Egal in welchem Glauben, dies ist ein Moment der Dankbarkeit, der Gebetserhörung.
Es ist jetzt fast Mitternacht. Die Menschen haben von uns wie immer Wasser, eine Decke, trockene Kleidung, Waschzeug und etwas zu essen bekommen. Auf unseren zwei Decks haben wir dünne Gummimatten ausgerollt. Dort auf den Holzplanken liegen die Menschen dicht an dicht, in graue Decken eingerollt, und versuchen zu schlafen. Die Frauen haben an Bord der Humanity 1 einen eigenen Raum mit Stockbetten. Sechs Frauen sind bei dieser Rettung auch an Bord, morgen werde ich sie kennenlernen.
10.-12. Mai: An Deck
„Hello my friend, how are you?“ Ich versuche ein ermutigendes Lächeln in Richtung des jungen Mannes aus dem Sudan zu schicken. Den Morgen haben wir damit verbracht, nach dem Frühstück unser Team und die Abläufe an Bord vorzustellen und haben die Klinik geöffnet.
Ich habe an Bord mit den Leuten gesprochen, um die Familienstrukturen, die wir an Bord haben, zu erfassen. Dabei ist mir die Gruppe aus dem Sudan aufgefallen. Sehr jung sehen sie aus, auch wenn sie sagen, dass sie über 20 Jahre alt sind. Sie halten zusammen, teilen ihr Essen, gucken zusammen heruntergeladene Fußballvideos auf einem Handy, das noch funktioniert. Sie laden mich ein, bei ihnen zu sitzen.
Einer von ihnen, Omar*, zeigt mir ein paar der Videos. Als er versteht, dass ich aus Deutschland komme, präsentiert er mir stolz seine beeindruckenden Kenntnisse deutscher Fußballer: Neuer, Kimmich, Müller, Musiala. Seine Augen leuchten auf, während er diese und andere Fußballernamen aus Spanien, Frankreich und Italien aufzählt. Stolz zeigt er mir einen gespeicherten Zusammenschnitt von Tor-Highlights. Unweigerlich muss ich an meinen eigenen fußballbegeisterten Bruder denken.
Während er das Handy hält, sehe ich, dass seine Fingernägel fehlen. An ihrer Stelle befinden sich dicke Hautgeschwülste. Es sieht beim bloßen Hingucken schmerzhaft aus. Später erzählt Omar uns seine Geschichte: Er hatte ein normales Leben mit seiner Familie mit vielen Geschwistern im Sudan, wo er auch zur Schule gegangen ist. Doch als der Bürgerkrieg im Sudan 2023 erneut ausbrach, floh er vor den Kampfhandlungen.
Zunächst wollte er nur in eine andere Region des Sudan fliehen – wurde jedoch auf dem Weg von bewaffneten Einheiten an einem Checkpoint abgefangen. Sie brachten ihn in eine Art Gefängnis und folterten ihn, zogen dem jungen Mann mit dem noch kindlichen Gesicht die Nägel aus Fingern und Zehen. Irgendwann ließen sie ihn laufen, aber nach Hause konnte er nicht, denn dort herrscht immer noch Krieg. Auch hatte sie ihm alle Papiere abgenommen. Über Umwege und Zufälle gelangte er nach Libyen – und von dort letztendlich auf das blaue Holzboot, und nun auf unser Schiff.
Es gibt viele solcher Geschichten und Momente an Bord. Besonders in Erinnerung geblieben ist mir auch Jonas*. Er kommt aus Tigray, Äthiopien. Mehrere Jahre ist er zur Universität in Tigray gegangen, hat Medizin studiert, spricht fließend Englisch und hilft uns mit Übersetzungen an Bord. Als 2020 in Tigray der Bürgerkrieg ausbrach, musste er innerhalb weniger Stunden fliehen, um nicht getötet zu werden.
Wie viele andere floh er in den angrenzenden Sudan, wo er mehrere Jahre in großen Geflüchtetencamps als Übersetzer und medizinischer Assistent für internationale NGOs arbeitete. Als auch im Sudan der Bürgerkrieg ausbricht, flieht er weiter nach Libyen, denn zurück nach Tigray kann er nicht. In Libyen wird er willkürlich inhaftiert, gefoltert und um Lösegeld für seine Freilassung erpresst. Der studierte Mann blickt mir in die Augen und sagt: „Das Boot war meine letzte Chance. Ich hatte keine Alternative.“ Er hofft darauf, in Europa wieder als Mediziner arbeiten zu können.
Oder der schüchterne Junge aus Eritrea, der lange kein Wort zu uns über die Lippen bringt. Als wir am letzten Tag zusammen in der Sonne an Deck stehen und aufs Meer schauen, dreht er sich plötzlich zu mir um, blinzelt und sagt auf Englisch: „I am happy.“
Wie viele Geschichten kann ein Augenblick fassen, wie viele kann ein einziges Deck tragen? Das frage ich mich mehr als einmal. Jeder Mensch, der über das Mittelmeer fliehen muss, hat zwangsläufig eine Geschichte, neben der mein Leben ein Ponyhof ist. Jede dieser Fluchtgeschichten ist individuell. Niemals dürfen wir diese einzelnen Leben pauschalisieren oder über einen Kamm scheren. Das heißt auch: Jede dieser Personen hat das Recht auf eine individuelle Prüfung ihres Asylantrags – und auf ein Leben in Würde.
Auf diesem Deck ist die gleichzeitige Ungerechtigkeit so greifbar, dass sie mir mehr als einmal den Atem stocken lässt. Doch sie erfüllt mich auch mit einer großen Dankbarkeit für alles, was ich so vollkommen unverdient habe: einen Pass, der Sicherheit gibt. Eine Familie, um deren Leben ich nicht fürchten muss. Einen Job, von dem ich meinen Lebensunterhalt sichern kann. Vier Wände, die ich Zuhause nennen darf. Eine Schule, zu der ich gratis gehen durfte. Die Besinnung auf den unermesslichen Wert dieser Güter, die wir oft als selbstverständlich hinnehmen, ist wichtig. Und hilft hoffentlich bei der Bereitschaft, zu teilen – und so letztendlich das Wohlergehen und die Sicherheit aller zu erhöhen.
Es fällt mir schwer, den aktuellen deutschen, europäischen und weltweiten hetzerischen und fremdenfeindlichen Migrationsdiskurs zu ertragen. Ja, es gibt in der Flucht- und Migrationspolitik keine einfachen Lösungen. Aber es gibt unveräußerliche Grundprinzipien, auf die wir uns in den kodifizierten Menschenrechten geeinigt haben. Die schlichte Orientierung daran hilft, einige Antworten doch recht leicht werden zu lassen. Zum Beispiel: „Man lässt keine Menschen ertrinken. Punkt.“
13. Mai: Ravenna (Italien)
Wir sind im Hafen von Ravenna angekommen. Mehr als 1.600 Kilometer mussten wir fahren, um die Geretteten hierher zu bringen. Die Geretteten sind nervös. Eine Disembarkation ist viel größer und umfangreicher, als man sie sich vielleicht vorstellt. Standardmäßig werden in jedem Hafen, in dem wir mit einem zivilen Rettungsschiff ankommen, zahlreiche Zelte auf dem Pier aufgebaut. Oft sind hunderte Menschen vor Ort: die Behörden, die Polizei, das Rote Kreuz, usw. Das Prozedere dauert oft viele Stunden: Gesundheitschecks, behördliche Erkennungsmaßnahmen, Verteilung von Kleidung, Verbringung in ein Ankunftszentrum.
So gut es geht, habe ich die Menschen an Bord informiert und darauf vorbereitet. Sie wissen zum Beispiel bereits, dass hier in Ravenna alle einen weißen Plastikanzug bekommen, den sie vor ihrer obligatorischen Behandlung gegen Krätze tragen müssen. Trotzdem ist die Verunsicherung vielen ins Gesicht geschrieben, während wir in den Hafen einlaufen. Wir machen ein bisschen Musik, um die Stimmung zu entspannen. Als Bob Marleys „Redemption Song“ aus unserem Lautsprecher tönt, huscht ein Schmunzeln über viele Gesichter – nicht nur der Geretteten.
Einer nach dem anderen dürfen die Geretteten die Humanity 1 verlassen und haben wieder festen Boden unter den Füßen. Wir verabschieden uns: „Goodbye my friend“, „All the best to you“, eine Umarmung. Nachdem die letzte gerettete Person von Bord geht, verkündet unsere Koordinatorin Sara die Info über die Funkgeräte: „All crew, all crew, rescue is complete.“ Die Rettung ist offiziell abgeschlossen.
Am Abend sitze ich alleine an Deck und blicke wieder auf die im Wind flatternden bunten Bilder, die einige der Geretteten gestern an Bord gemalt haben. Ich denke an die vielen Wege, Leben, Geschichten , die sich an diesem kleinen Deck wieder für einen kurzen Moment überschnitten haben. Ich bete für die Menschen und hoffe so sehr, dass sie in Europa das finden, wonach sie suchen. Das liegt in unserer Hand.
* Namen werden zum Schutz der Personen geändert. Alle hier verkürzt dargestellten Geschichten Geretteter wurden mit Einvernehmen zur Veröffentlichung von den Personen an Bord erfasst.
Die Humanity 1 wird in diesem Einsatz noch ein drittes Mal auslaufen und weitere 104 Menschen von zwei seeuntauglichen Booten retten. Die italienische Rettungsleitstelle wies ihnen Bari als sicheren Ort für die Ausschiffung zu – etwa 1.100 km vom Ort der Rettung entfernt.
Insgesamt hat unser Bündnisschiff bei diesem Einsatz in fünf Rettungen 297 Menschen aus Seenot gerettet. Zum Einsatzbericht von SOS Humanity
United4Rescue – Gemeinsam Retten e.V.
IBAN: DE93 1006 1006 1111 1111 93
BIC: GENODED1KDB
Bank für Kirche und Diakonie eG – KD-Bank
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