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22.06.2022

“Das ist eine total verkehrte Welt”

Kathrin Schmidt war 2016 und 2017 bei mehreren Missionen Einsatzleiterin auf der Iuventa. Mit dem Rettungsschiff des Vereins Jugend Rettet wurden alleine zwischen Juli 2016 und August 2017 mehr als 14.000 Menschen aus Seenot im Mittelmeer gerettet. Zusammen mit 20 anderen Seenotretter:innen ist sie in Italien wegen Beihilfe zur illegalen Einreise angeklagt. Am 21. Mai 2022 fand der erste Termin der Vorverhandlung statt. Kathrin engagiert sich auch heute noch in der Seenotrettung.

Was wird euch vorgeworfen?

Die Staatsanwaltschaft in Trapani/Italien hat letztes Jahr Anklage erhoben, nach einem sehr langen Ermittlungsverfahren. Die Anklage lautet “Beihilfe zur unautorisierten Einreise”. Im Moment sind davon 21 Seenotretter:innen, bzw. Einzelpersonen von verschiedenen NGOs betroffen, davon sind vier Crew-Mitglieder der Iuventa. Das Strafmaß auf diese Anklage in Italien sind bis zu 20 Jahre Haft.

Die Argumentation der Staatsanwaltschaft ist, dass es keine Notwendigkeit zur Rettung gegeben hätte. Das heißt, sie sagen: Die Menschen, die wir gerettet haben, die hätten sich ja eigentlich gar nicht in Seenot befunden. Und versuchen das auf knapp 28.000 Seiten irgendwie darzulegen. Von mir aus können sie auch noch mal 28.000 Seiten draufpacken – sie werden es nicht schaffen, zu zeigen, dass in Zeiten, in denen in acht Jahren 22.000 Menschen auf dem Mittelmeer ihr Leben verlieren, es keine Notwendigkeit zur Rettung gibt!

Was sagt ihr zu den Vorwürfen?

Die Idee alleine, dass Menschen auf der Flucht nicht gerettet werden sollten oder dürften, ist absolut absurd. Und wir können einfach nicht oft genug betonen, dass die Problematik einzig und allein darin besteht, dass es keine legalen und sicheren Fluchtrouten gibt. Gäbe es sichere und legale Fluchtrouten, gäbe es keine Notwendigkeit für Menschen, andere Fluchtrouten zu nehmen.

Die Boote, in denen Menschen von Libyen aus über das Mittelmeer fliehen, sind grundsätzlich seeuntauglich. Diese Art von Schlauchbooten können nicht sicher manövriert werden. Und zusätzlich dazu sind sie noch überfüllt, das heißt, die Menschen befinden sich von dem Moment an in Lebensgefahr, wo sie auf diesem Boot sitzen. Das nicht als Seenot anzuerkennen, ist eine absolute Farce. Und natürlich drängt sich dann der Gedanke auf, dass dieser ganze Strafprozess um uns einfach nur ein weiterer Ausdruck eben dieses rassistischen Grenzregimes ist, das Geflüchtete als Menschen zweiter Klasse behandelt, die nicht in Europa willkommen sind.

Die Iuventa von Jugend Rettet im Einsatz im Mittelmeer. Foto: Keny Karpov

Was glaubst du, was steckt hinter dieser Anklage?

Wenn wir über die Kriminalisierung von Seenotrettung sprechen, oder die Kriminalisierung von solidarischen Strukturen, dann müssen wir uns klarmachen, dass sie ein Mittel zum Zweck ist. Was eigentlich dahinter steht, ist die Kriminalisierung von Migration an sich.

Das, was wir in den letzten Jahren mitbekommen haben – an den EU-Außengrenzen, mit Push-Backs auch innerhalb von Europa und der unterlassenen Hilfeleistung im Mittelmeer –, kann meiner Meinung nach nicht anders bezeichnet werden, als dass Europa Menschen mit dem falschen Pass den Krieg erklärt hat. Flucht und Schutzsuchende werden selbst kriminalisiert, mit dem Vorwurf der “Beihilfe zur unautorisierten Einreise”. Es ist zynisch, solche Vorwürfe in den Raum zu stellen, wenn alle Beteiligten genau wissen, dass es so etwas wie eine autorisierte Einreise für asylsuchende Menschen, die nicht aus Europa kommen, schlichtweg nicht gibt.

Das heißt: Flucht ist nicht erwünscht, Schutzsuchende sind nicht erwünscht. Und um diese flüchtenden Menschen abzuwehren, ist es dementsprechend auch notwendig, solidarische Strukturen, die Menschen auf der Flucht unterstützen, mit einzubeziehen. Die zivile Seenotrettung ist eine von diesen solidarischen Strukturen, aber bei weitem nicht die einzige.

Was ist das Ziel der Kriminalisierung von Seenotrettung?

Der Aufwand, der betrieben wurde, um gegen uns zu ermitteln, ist absolut enorm. Das Ermittlungsverfahren ging ja fünf Jahre, und im Zuge dessen wurde mindestens ein verdeckter Ermittler eingesetzt. Es wurden Wanzen versteckt, auf Schiffen und auch in Häusern. Es waren fünf verschiedene Ermittlungsbehörden im Einsatz. Ein massiver Aufwand, um die zivile Seenotrettung mit allen möglichen Mitteln zu diskreditieren.

Ich denke, dass ein Ziel dieser Kriminalisierung die Abschreckung sein soll: Dass es unangenehmer und unbequemer wird und mit persönlichen Konsequenzen für helfende Menschen verbunden sein kann, wenn wir uns entscheiden, das zu tun, wovon wir denken, dass es einfach nur das Logische und das Richtige ist – nämlich Schutzsuchenden zu helfen. Aber ich denke, dass das mit Sicherheit nicht funktioniert, und dass viele Menschen davon nicht abgeschreckt sind.

Was es allerdings trotzdem zur Folge hat, ist ein enormer Mehraufwand. Es ist ja nicht so, dass nachgewiesen wurde, dass wir etwas falsch gemacht haben. Sondern ganz im Gegenteil: Wir sind gefühlt in der Beweispflicht und müssen erklären, dass diese Menschen sich in Seenot befunden haben, und dass wir sie aus Seenot gerettet haben. Für die aktuelle Situation bedeutet das, fast lückenlos dokumentieren zu müssen, was wir machen. Immer mit dieser Gefahr im Nacken, dass das strafrechtliche Konsequenzen zur Folge haben könnte – obwohl das, was wir gerade machen, eigentlich nur Menschen in Seenot das Leben retten soll. Das ist eine total verkehrte Welt und eine sehr, sehr absurde Situation.

Du hast gesagt, dass Menschen auf der Flucht selbst kriminalisiert werden. Wie das?

Also während wir, beziehungsweise unser Strafprozess, relativ viel Aufmerksamkeit erfährt, ist es wichtig zu betonen, dass unter derselben Anklage “Beihilfe zur unerlaubten Einreise” auch unglaublich viele Geflüchtete verhaftet, verurteilt und inhaftiert werden. Die italienische Polizei hat seit 2013 über 2.500 Geflüchtete verhaftet, und alleine im Jahr 2019 saßen über 1.900 Geflüchtete in Griechenland in Haft.

Der große Unterschied zu uns ist, dass Menschen auf der Flucht nicht mit denselben Privilegien in diese Prozesse reingehen, wie wir das tun. Das heißt, oft haben sie keinen oder ungenügenden Rechtsbeistand, keine oder schlechte Übersetzung vor Gericht, und meistens nicht einmal eine Ahnung davon, was ihnen überhaupt vorgeworfen wird. Viele Verurteilungen finden auf dünner bis fehlender Beweislage statt.

Diese Menschen werden durch die europäische Asyl- und Migrationspolitik gezwungen, Routen zu nehmen, für die sie später dann verurteilt werden und im Gefängnis landen. Das heißt, es gibt keine Möglichkeit für sie, sich in Sicherheit zu bringen, ohne sich auf die eine oder andere Weise strafbar zu machen.

Was hier also eigentlich mit der ganzen Kriminalisierung von Flucht, Geflüchteten, Seenotrettung und solidarischen Strukturen und auch in unserem Prozess verhandelt wird, ist das Recht auf Leben. Das Recht, sich selbst in Sicherheit bringen zu dürfen. Das ist, was verhandelt wird, und das ist, was in Europa Menschen auf der Flucht nicht zugestanden wird.

Wie geht es mit eurem Prozess jetzt weiter?

Wir haben den Prozessauftakt als Anlass genommen, vor Ort zu sein und Präsenz zu zeigen, auch wenn es für uns eigentlich keine Anwesenheitspflicht gab. Weil es für uns wichtig war, mit unserer Anwesenheit ein Zeichen zu setzen, aber auch, um Aufmerksamkeit auf den Prozess zu lenken. Inhaltlich selbst ist tatsächlich nicht viel passiert an diesem Tag.

In der Zwischenzeit haben schon weitere Anhörungen stattgefunden und ein Ergebnis davon ist, dass die Vorgehensweise der Staatsanwaltschaft – ich glaube, man kann sagen – schlampig war. Wir Angeklagten wurden sowohl über das Ermittlungsverfahren als auch die Prozesseröffnung, also die Anklage selbst, nicht ordnungsgemäß benachrichtigt. Deswegen hat der Richter jetzt beschlossen, dass die Akte noch mal an die Staatsanwaltschaft zurückgehen und das nachgeholt werden muss.

Das hat Konsequenzen für uns persönlich, natürlich. Wir sind seit vielen Jahren in diesem Zustand, davon betroffen zu sein – in diesem Ermittlungsverfahren, von dieser Anklage. Das hat Auswirkungen auf unser Privatleben, auf unser Arbeitsleben, mit dieser Ungewissheit leben wir seit vielen Jahren. Aber auf der anderen Seite ist es eben auch ein Zustand, der politisch untragbar ist: Dass diese Vorwürfe weiterhin im Raum stehen und eine klare Rechtsprechung herausgezögert wird, ob Seenotrettung kriminalisiert werden darf und kann. Eigentlich ist wichtig, dass diese Anklage so schnell wie möglich fallen gelassen wird.

Die Iuventa wurde 2017 beschlagnahmt und rostet seitdem in einem italienischen Hafen vor sich hin. Foto: Selene Magnolia

Was können Personen und Organisationen, die euch unterstützen möchten, jetzt tun?

In erster Linie ist es wichtig, dass wir weiterhin über diese Themen sprechen. Und dass wir nicht zulassen, dass wir dieser Thematik und den Bildern, die wir alle zur Genüge kennen, überdrüssig werden.

Natürlich wünschen wir uns Solidarität und Menschen, die in uns in diesem Prozess begleiten. Gleichzeitig ist es sehr wichtig zu verstehen, in welchem Kontext dieser Prozess stattfindet, und dass es dabei nicht primär um uns europäische, privilegierte Angeklagte geht. Es ist ein Dilemma, weil wir diejenigen sind, denen diese Bühne angeboten wird. Und weil unsere Gesellschaft so funktioniert: Dass wir mit unseren Gesichtern, Geschichten und Emotionen Menschen abholen können und es einfacher fällt, sich mit uns zu identifizieren oder empathisch zu sein. Aber das ist Teil des Problems.

Ich würde mir wünschen, dass wir genau darüber mehr sprechen. Also: Was sind die Strukturen, die dazu führen, dass nicht nur der Rassismus an den Außengrenzen, sondern auch in unserem Alltag fortbesteht und reproduziert wird. Oft tappen wir in die Falle, die großen, wichtigen politischen Fragen beantworten zu wollen, und wir reden über Außengrenzen, über Asylpolitik, über Kapitalismus, über Klimawandel. Das ist alles total wichtig und gleichzeitig dürfen wir nicht vergessen, dass es Dinge in unserem täglichen Leben gibt, die wichtig sind hinterfragt und angegangen zu werden. Ich denke, dass wenn wir in unserem Alltag lernen, auch miteinander und untereinander solidarischer zu sein und rücksichtsvoller, und das umsetzen, was wir einfordern, dann ist schon ganz schön viel geschafft.

>> www.iuventa-crew.org

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