02.03.2023
„Mindestens 30 Menschen im Mittelmeer ertrunken." Wenn über Unglücke dieser Art berichtet wird, begegnen uns die Toten meist als namenlose Zahlen. Dass diesen Toten ihre Namen und Geschichten zurückgegeben werden, daran arbeiten die beiden Autor:innen Kristina Milz und Anja Tuckermann. Pünktlich zum Weltflüchtlingstag 2023 erscheint ihr Buch „Todesursache: Flucht. Eine unvollständige Liste” in einer aktualisierten Neuauflage. Das Buch umfasst eine Liste mit mehr als 50.000 Menschen, die seit 1993 an Europas Grenzen ums Leben gekommen sind, und viele Portraits von Verstorbenen sowie Gastbeiträge von Autor:innen und Aktivist:innen.
Die Neuauflage wurde durch die Unterstützung von United4Rescue ermöglicht. Für unser Logbuch haben wir mit Anja und Kristina über ihr Projekt gesprochen.
Wie seid Ihr auf die Idee zu dem Buch gekommen?
Kristina Milz: Anja und ich haben uns 2017 kennengelernt, als sie auf der Suche nach jemandem war, der sich mit der Situation afrikanischer Flüchtlinge in Israel beschäftigt hat. Als wir uns schließlich getroffen haben, erzählte sie mir auch von der Liste der Toten, die das Netzwerk UNITED for Intercultural Action zusammenstellt, und von ihrer Idee, sie als Buch herauszugeben. Wir redeten und redeten und plötzlich stand unser Konzept, es nicht bei den nackten Zahlen zu belassen, sondern sie mit Leben zu füllen, indem wir Geschichten der Verstorbenen integrieren. Wir haben dann schnell entschieden, das gemeinsam umzusetzen.
Anja Tuckermann: Und der Hirnkost Verlag war gleich dabei. Ich dachte zuerst über so eine Dokumentation nach, als ich sah, wie ein Eritreer sich immer wieder aufgereihte Tote an einem Strand in Sizilien auf Fotos ansah: Menschen, mit denen er von Libyen aus auf dem Boot gewesen war und die gestorben waren, während er überlebt hatte. Er hat lange getrauert und ich fragte ihn nach den Namen. Er wusste sie nicht und dann war gleich die Frage da, wie die Eltern je erfahren, was mit ihren Kindern geschehen ist. So kam ich auf die Idee, auch Namen zu recherchieren, denn die allermeisten Toten in der Liste sind ohne Namen verzeichnet.
Wie entsteht die Liste der Toten?
AT: Das Netzwerk UNITED for Intercultural Action in Amsterdam trägt seit 1993 die dokumentierten Toten in eine Liste mit dem Titel „Die fatale Politik der Festung Europa“ ein. Hinter jedem Eintrag stehen eine oder mehrere Quellen und die bis heute etwa 51.000 verzeichneten Toten sind alle auf der Flucht nach Europa oder innerhalb Europas im Zusammenhang mit ihrer Flucht oder zermürbender Asylpolitik gestorben. Dabei ist die Dunkelziffer um ein Vielfaches höher.
Zuerst bekannt gemacht hat die Liste die Künstlerin Banu Cennetoğlu mit Publikationen und Installationen. Es wird inzwischen aber vielfach öffentlich daraus vorgelesen, übersetzt wurde die Liste u.a. in Italienisch, Spanisch, Katalanisch, Englisch und Französisch. Nur auf Deutsch wird sie auch in einem Buch gedruckt. Unser Buch ist ein besonderes Projekt, weil es neben der Liste – übrigens erstmals die komplette Liste seit 1993 – auch Gastbeiträge von verschiedenen Autor:innen und Aktivist:innen sowie Porträts von Verstorbenen enthält.
Ihr erzählt im Buch auch über einzelne Schicksale. Wie sind die Geschichten zu Euch gekommen?
KM: Das ist ganz unterschiedlich. Anja hat sich intensiv mit Menschen aus Afrika beschäftigt, während ich seit langem über den Nahen Osten schreibe. Es war also schnell klar, wie wir die Geschichten aufteilen würden, aber dann mussten wir natürlich entscheiden, welche wir recherchieren. Manche haben wir direkt aus der Liste genommen und nachrecherchiert. Einige Porträts ließen sich sogar schreiben, ohne die Angehörigen nochmals mit dem Tod ihrer geliebten Menschen zu konfrontieren. So war das zum Beispiel bei der Familie von Alan Kurdi: Das Foto des toten Jungen am Strand kannte die ganze Welt und viele Medien haben auch über die Geschichte dahinter berichtet.
Andere Geschichten haben wir von Angehörigen selbst erfahren. Oftmals waren es schon länger bestehende persönliche Kontakte, bei denen wir uns erst einmal vorsichtig an das Thema rantasten konnten, manchmal haben wir aber auch über Organisationen gearbeitet. Das Porträt über die junge Melike Akbaş konnte ich zum Beispiel nur schreiben, weil ein Mitarbeiter von medico den Kontakt hergestellt hat. Ich hatte von Melike auf Twitter gelesen und ihn angeschrieben.
AT: Außerdem habe ich vor allem Afrikaner:innen persönlich nach ihren Toten gefragt. So gut wie niemand von ihnen ist ja in Europa einfach aus dem Flugzeug gestiegen, da es schier unmöglich ist, von Afrika aus ein Visum zu bekommen. Das heißt, fast alle haben ihr Leben riskiert und sind nun als Überlebende hier in Europa. Und jede:r hat seine Toten mit im Gepäck. Die Menschen, die ich persönlich traf, haben mir also Namen und Todesumstände genannt, damit diese Menschen nicht vergessen oder wenigstens einmal öffentlich genannt sind. Zum Teil haben sie uns auch Fotos gegeben oder eben auch mehr von den Menschen erzählt. Dabei war in den Berichten die Tortur des Weges oft so übermächtig, dass manchmal wenig von der Persönlichkeit des toten Menschen erzählt werden konnte, dafür aber die Umstände des Todes.
Warum braucht es dieses Buch?
KM: Es befremdet und trifft mich, wenn sich zum Beispiel im Zusammenhang mit der Seenotrettung eine abstrakte und kalte Sprache etabliert – so, als ginge es nicht um einzelne Leben, die im Mittelmeer ihr Ende finden. Um das Schicksal von Menschen, die lachen und weinen, die hoffen und bangen, Menschen mit schönen und hässlichen Seiten, Menschen, die eben Menschen sind wie wir alle. Diese schlichte, aber wichtige Wahrheit muss meiner Meinung nach wieder stärker ins Bewusstsein rücken und Sprechen und Handeln leiten. Ich hoffe, dass unser Buch dazu führt, dass man einen Moment innehält und sich berühren lässt von dieser menschgemachten Katastrophe, die endlich ein Ende finden muss.
AT: Das Buch wird auch gebraucht, um Menschen Argumente an die Hand zu geben, die Geflüchtete unterstützen. Oder die in kontroversen Diskussionen bestehen möchten. Ja, und wie Kristina sagt, zu zeigen, dass fremde Menschen eben doch nicht so fremd sind. Man muss sich z.B. vorstellen können, dass Menschen mit einer anderen Hautfarbe ihre Kinder ebenso sehr lieben und fördern wollen wie Menschen in Deutschland. Und dass es sich nicht leichter stirbt, wenn man fremd ist, nein, auch hier warten und hoffen die Verwandten verzweifelt auf eine Nachricht, genauso wie deutsche Verwandte das tun würden, wenn ihr Bruder oder ihr Sohn oder ihre Tochter sich plötzlich nicht mehr meldet.
KM: Ich glaube, dass es jede und jeden verändert, die oder der sich damit auseinandersetzt, was das alles konkret für die betroffenen Menschen bedeutet. Ich schäme mich jetzt noch mehr für viele Entscheidungen, die in unserer Demokratie getroffen werden. Und ich werde wütend, wenn in unserer Gesellschaft darüber gesprochen wird, als ginge uns das alles nichts an. Oder als hätten wir es aus irgendwelchen Gründen verdient und es wäre nicht einfach nur Zufall und Glück, dass wir diesen Gefahren nicht ausgesetzt sind.
AT: Meine Perspektive hat sich dadurch auch insofern geändert, dass ich noch mal genauer auf diejenigen schaue, die überlebt und es wirklich bis nach Europa geschafft haben. Wir dokumentieren mit dem Buch ja die Toten. Aber für mich persönlich bedeutet das, für die Überlebenden, die es bis hierher geschafft haben, besondere Sorge zu tragen.
Was ist neu an dieser Ausgabe?
AT: Zunächst einmal haben wir die Todesfälle seit 2019, das Jahr, in dem wir die vorherige Ausgabe herausgegeben haben, ergänzt. Die komplette Liste ist aber inzwischen von United for Intercultural Action durchgearbeitet worden, was bedeutet, dass Fälle dazu kamen, andere gestrichen wurden, die nicht explizit mit der Politik der Festung Europa zu tun hatten. Deshalb mussten wir Teile neu übersetzen. Wir selbst haben aber auch neue Namen recherchiert. Dabei haben uns zum Beispiel die Grupa Granica aus Polen und das Gambia-Netzwerk geholfen.
KM: Zum ersten Mal hatten wir dabei auch einen Medienpartner. Der Bayerische Rundfunk hat uns eine Rechercheliste zur Verfügung gestellt, in der hunderte Tote verzeichnet waren, die in der United-Liste noch nicht enthalten waren. Wir haben aber auch eine ganze Reihe neuer Porträts geschrieben. Außerdem gibt es im Buch ja noch den Teil mit den Gastbeiträgen. Einige wenige haben wir unverändert aus der alten Auflage übernommen, andere gestrichen oder eine Aktualisierung erbeten, weil sich die Situation in den vergangenen fünf Jahren natürlich weiterentwickelt hat. Und wir haben auch ganz neue Beiträge aufgenommen, weil es Aspekte gab, die wir wichtig fanden und die bisher in unserem Buch noch nicht zu Wort gekommen sind.
Habt ihr Beispiele dafür, wie Initiativen das Buch einsetzen können?
AT: Es gibt einige Kirchengemeinden in Deutschland, die in Tag- und Nachtlesungen stundenlang daraus vorgelesen haben. Wir selbst haben an verschiedenen Orten einige der Porträts gelesen. Ein Künstler graviert die Einträge der Liste in Steine. In Stuttgart wurden 400 leere Stühle aufgestellt und aus dem Buch vorgelesen. In Bremen wurden 35.000 Teelichter aufgestellt. All diese Veranstaltungen mit dem Buch sind der Versuch, das Ausmaß des Sterbens sinnlich darzustellen, fühlbar zu machen, um was für eine riesige Menge von Menschen es sich handelt, die da gestorben ist. Der Versuch, das nah kommen zu lassen, wie das Buch selbst das ja auch tut und tun möchte.
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Über die Herausgeberinnen
Dr. Kristina Milz schreibt als freiberufliche Autorin Essays, Reportagen und Porträts, die sie immer wieder auch in den Nahen Osten führen; als Historikerin setzt sie sich insbesondere mit der transkulturellen Geschichte des 20. Jahrhunderts auseinander. Sie studierte in München Geschichte und Politikwissenschaft, wo sie auch heute lebt und arbeitet. 2020 wurde sie mit einer Biografie über den deutsch-jüdischen Orientalisten Karl Süßheim promoviert.
Die Schriftstellerin Anja Tuckermann hat Romane, Sach- und Kinderbücher sowie Theaterstücke veröffentlicht. Ihr Werk wurde vielfach ausgezeichnet, u.a. mit dem Deutschen Jugendliteraturpreis (Denk nicht, wir bleiben hier – Die Lebensgeschichte des Sinto Hugo Höllenreiner) und dem Friedrich-Gerstäcker-Preis (Mano – Der Junge, der nicht wusste, wo er war), und in 15 Sprachen übersetzt. Sie lebt in Berlin, wo sie auch aufgewachsen ist.
United4Rescue – Gemeinsam Retten e.V.
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BIC: GENODED1KDB
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