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15.11.2023

"Es steht mehr auf dem Spiel, als wir glauben."

Erik Marquardt ist eigentlich Fotograf. Seit 2019 sitzt er für die Grünen im Europaparlament. Dort arbeitet er hauptsächlich zu den Themen Flucht, Migration und Menschenrechte. Wir haben mit ihm über die Gemeinsame Europäische Asylpolitik gesprochen.

Die Innenminister:innen der EU haben sich auf eine Verschärfung des europäischen Asylrechts geeinigt. Was sind deine größten Kritikpunkte daran?

Erik Marquardt: Die ganze Reform basiert auf der Idee, man müsse die Menschen einfach nur etwas schlechter behandeln, ihnen etwas weniger Rechte geben, dann würden schon weniger Leute kommen. Statt Menschenrechtsverletzungen zu bekämpfen, versucht man in Gesetze zu gießen, was man die letzten Jahre schon gemacht hat, und was nur zu Chaos geführt hat. Wie kann man das, was momentan schlecht ist, aber illegal, jetzt legal machen?

Die Reform ist ein Paket aus diversen Verordnungen und Richtlinien, die fast alle Aspekte des Asylsystems in Europa betreffen. Das ist so komplex, dass kaum jemand in der Öffentlichkeit versteht, was da eigentlich aus welchen Gründen gemacht wird. Was aber noch schlimmer ist: Auch viele nationale Parlamentsmitglieder und teilweise auch die Regierungsmitglieder haben gar keine ernsthafte Chance, sich in dieser Komplexität über die Reform bewusst zu werden; in der Form, dass sie sagen können, das ist gut, das ist schlecht, das geht in die richtige Richtung.

Befürworter der Reform argumentieren, sie sei auf jeden Fall besser als der Status Quo. Was sagst du dazu?

Es ist ja nicht so, dass es gar kein funktionierendes Asylsystem mehr in Europa gibt. In manchen Ländern funktioniert das recht gut. In Deutschland zum Beispiel gibt es eigentlich relativ resiliente Strukturen, auch angesichts großer Fluchtbewegungen. Auch dieses Jahr sind wieder viele Menschen nach Deutschland gekommen, und wenn man ehrlich ist, bemerken die Meisten in ihrem Alltag gar nicht so viel davon.

Ich glaube, dass dieser Zwang, “wir brauchen doch jetzt eine Reform und deswegen darf man nicht gegen die sein, die hier gerade auf dem Tisch liegt”, davon ablenkt, dass die Inhalte von Politik entscheiden und nicht einfach nur die Überschriften. Dabei droht, dass wir die Chance verpassen, ein funktionierendes Asylsystem für Europa aufzubauen, und stattdessen Probleme verstetigen oder sogar verschlimmern.

Wenn man sich Studien anschaut, dann ist sehr eindeutig, dass ein System mit geschlossenen Lagern an den Außengrenzen zu schlechteren Bedingungen in den Außengrenzstaaten führen wird. Das schafft Anreize für mehr irreguläre Migration und mehr irreguläre Sekundärmigration. Man kann also davon ausgehen, dass durch diese Reform mehr Menschen nach Deutschland kommen, und nicht weniger - aber unter schlechteren Bedingungen.

Was bedeuten die Reformpläne für die zivile Seenotrettung?

Ich glaube, dass man vom Pakt am Ende nicht erwarten kann, dass er einen relevanten Einfluss auf das Sterben im Mittelmeer hat. Da würde ich mir eigentlich Spitzenpolitikerinnen und Politiker wünschen, die da klar Stellung beziehen.

Ich finde, dass es zu vielen Themen in der Migrationspolitik unterschiedliche Meinungen geben kann und es auch hilfreich ist, das mal auszudiskutieren. Aber bei der Frage, ob man Menschen, die in Seenot sind, sich also in der akuten Gefahr des Ertrinkens befinden, retten sollte, darüber kann es keine zwei Meinungen in liberalen Demokratien geben. Wenn Menschen in Seenot sind, dann muss man alles tun, um sie zu retten. Und alle Fragen, die sich migrationspolitisch stellen, kann man beantworten, wenn die Menschen etwas zu essen haben, gesundheitlich versorgt sind und mit einer warmen Decke im Hafen sitzen.

Was müsste man tun, um das Sterben auf dem Mittelmeer zu beenden – abseits von Seenotrettung?

Zum einen muss man in den Herkunftsländern anfangen. Wie kann man denn Menschen, die wir ja brauchen, ermöglichen, sich auf Jobs in Europa zu bewerben? Und zwar nicht nur Fachkräfte, sondern auch andere Arbeitskräfte, die genauso einen Beitrag zur Volkswirtschaft leisten könnten, wenn sie vielleicht eine kurze Ausbildung machen und dann Solarpaneele installieren. Wir müssen zum Beispiel in Zentren investieren, wo Menschen sich bewerben und informieren können: Was sind meine Chancen in Europa? Wie kann ich legal nach Europa kommen? Auf welche Jobs kann ich mich bewerben, um dann ein Arbeitsvisum zu bekommen?

Das zweite ist, dass wir in den Herkunftsländern in Bildung und Ausbildung investieren müssen. Es kann ja nicht sein, dass man in vielen Ländern der Welt den Traum vom Studieren nur verwirklichen kann, wenn man sich auf den lebensgefährlichen Weg übers Mittelmeer begibt.

Die meisten Menschen fliehen, wenn sie ihr Land verlassen müssen, nicht weit weg, sondern an den nächsten sicheren Ort, der sich ihnen bietet. Im Falle von Syrien sind das zum Beispiel Libanon oder Jordanien. Dort in den Nachbarländern kann man die Menschen sehr gut unterstützen und ihnen Perspektiven geben. Es ist viel leichter möglich, Menschen dort, wo sie zum Beispiel schon die Sprache sprechen, Zugang zu Schulbildung zu geben, zu Gesundheitsversorgung und zu beruflichen Perspektiven.

Man wird dadurch nicht erreichen können, dass niemand mehr nach Europa flieht. Das wäre auch falsch. Aber das System in Europa muss so funktionieren, dass die Menschen an den Außengrenzen nicht fünf Mal gepushbackt werden, sondern dass man die Menschen registriert und sich anschaut, wer das eigentlich ist. Braucht die Person medizinische Versorgung? Braucht sie vielleicht Kontakt zu den Familienangehörigen, die schon in einem bestimmten europäischen Land leben? Und nach der Registrierung müssen die Leute in die EU-Staaten verteilt werden und Staaten, die sich weigern, an dieser Verteilung mitzuwirken, müssen das finanziell sehr stark spüren. Es darf sich einfach nicht mehr lohnen, sich unsolidarisch zu verhalten.

Die Debatte, die wir gerade über Seenotrettung, aber auch über Migration in Deutschland führen, ist im Wesentlichen davon geprägt, dass Menschen es als lästig empfinden, dass man die Würde jedes einzelnen Menschen noch achten muss. Dass es lästig ist, dass man rechtsstaatlich prüfen muss, ob jemand schutzbedürftig ist oder nicht, dass man sich also wirklich auch noch an die Gesetze halten muss, die man selbst demokratisch geschaffen hat. Aber Europa wird auf Dauer nur stabil sein, wenn wir unsere Probleme rechtsstaatlich und demokratisch auf Grundlage der Menschenrechte lösen.

Jetzt haben sich die EU-Staaten schon auf große Teile der Asylreform geeinigt. Das EU-Parlament hat dagegen in vielen Punkten eine andere Position. Wie geht es in der EU jetzt weiter?

Das Parlament hat eine Position und der Rat – also die Mitgliedstaaten – hat eine Position, die werden gleichwertig behandelt. Und dann verhandeln beide Institutionen, welche dieser beiden Positionen entweder Recht bekommt oder wo man Kompromisse macht. Und das macht man mit hunderten Punkten so.

Das Europäische Parlament hat zweieinhalb Jahre an einer halbwegs vernünftigen Position gearbeitet, die zwar nicht in allen Teilen gut ist, aber zumindest umsetzbar wäre. Die Mitgliedstaaten dagegen vertreten in weiten Teilen nationale, teilweise auch nationalistische Interessen. Die Ratsposition ist davon geprägt, dass die Außengrenzstaaten alles tun wollen, um Menschen so schlecht zu behandeln, dass sie nicht bei ihnen bleiben, und die Binnenstaaten alles tun wollen, damit die Leute nicht zu ihnen kommen. Aber auf der Grundlage wird kein sinnvolles EU-Asylsystem entstehen.

Es braucht jetzt Mitgliedstaaten in der Europäischen Union, die über ihr eigenes nationales Interesse hinausschauen: Wie können wir, und können wir überhaupt, ein europäisches Asylsystem zusammen gestalten? Diese Bereitschaft vermisse ich noch.

Kann die Reform auch scheitern?

Über eine Einigung über Rechtsakte müssen Rat und Parlament dann abstimmen, bevor das Gesetz wird, und in beidem braucht es eine Mehrheit. Und natürlich kann das Paket auch scheitern.

Es könnte deshalb auch eine Lösung sein, die Reform schrittweise anzugehen. Ich bin total bereit, mich dafür einzusetzen, dass es an den europäischen Außengrenzen ein gutes Menschenrechtsmonitoring gibt und im Gegenzug stärkere Pflichten bei der Registrierung. Das ist zum Beispiel ein erster Schritt, den man gehen könnte. Und im Gegenzug könnte man den Außengrenzstaaten etwas mehr Verteilung anbieten.

Ich hoffe, dass dieses riesige Paket, das kaum jemand so richtig versteht und das großen Schaden anrichten würde, weil es eben in dieser riesigen Komplexität kaum umsetzbar ist, noch durch einen solchen schrittweisen Ansatz abgelöst wird. Wo man sich etwas nüchterner und pragmatischer darüber unterhält: Was wollen wir eigentlich? Wie lernen wir aus den Erfahrungen, die wir mit Migrationsbewegungen, zum Beispiel aus der Ukraine, haben? Das würde mich freuen. Aber optimistisch bin ich nicht, auch wenn ich mir anschaue, wie in Deutschland die Debatte läuft.

Was können wir denn als Zivilgesellschaft in der aktuellen Situation tun?

Ich glaube, dass verschiedene Akteure in der Gesellschaft deutlich lauter werden müssen. Da meine ich kleinere Gruppen, Kirchen und Gewerkschaften, bis hin zu Arbeitgeberverbänden und Handwerkskammern.

Wir wissen, dass uns jedes Jahr in Deutschland unter dem Strich 400.000 Leute fehlen, also 400.000 Menschen mehr kommen müssten. Aber dieses Einwanderungsland hat nicht die Infrastruktur, Einwanderungsland zu sein. Dabei ist es relativ egal, ob jetzt eine Person aus Syrien kommt, die keine anerkannte Ausbildung hat, oder eine Fachkraft aus Kanada. Auch eine Fachkraft braucht eine Wohnung, muss zum Arzt, die Kinder müssen zur Schule oder zur Kita. Wir müssen massiv in die Infrastruktur investieren. Und das geht nur, wenn wir verstehen, dass Migration für Deutschland keine Belastung ist, sondern eine existentielle Notwendigkeit.

In dieser Situation würde ich mir einen gesellschaftlichen Aufstand wünschen gegen die Lügen, die sich in den Köpfen festsetzen. Solange es in der Gesellschaft ein falsches Problembewusstsein gibt, also Menschen glauben, es gäbe viel zu viel Migration, werden wir mit den Antworten auch nicht durchdringen, die das ganze Thema pragmatisch angehen wollen. Ich würde mir wünschen, dass mehr Menschen – auch in der Politik übrigens – erklären, dass wir in Europa stolz darauf sind, Menschen in Not zu helfen, und wir uns dafür nicht schämen müssen.

Die Niedertracht, die sich in der Debatte breitmacht, vergiftet die ganze Gesellschaft, und in einigen Staaten wie Polen oder Ungarn auch schon die Rechtsstaatlichkeit. Ich glaube, dass da mehr auf dem Spiel steht, als wir glauben. Wir müssen gerade um gesellschaftliche Hegemonien kämpfen, und da müssten eigentlich viel mehr Leute ihre Freizeit, oder wenn man zum Beispiel Richtung Kirchen gucken, auch ihre Ressourcen einsetzen, um eine Bewegung zu schaffen, die am Ende nicht zulässt, dass dieses Land immer weiter nach rechts rutscht.

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