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09.08.2023

Fragen an eine Seenotretterin

Unser Vereinsmitglied Annika war für zweieinhalb Monate an Bord des Such- und Rettungsschiffs „Geo Barents“ von Ärzte ohne Grenzen als Referentin für humanitäre Angelegenheiten im Einsatz. In ihrer Rolle war sie vor allem mitverantwortlich für die Unterstützung der Geretteten, die Dokumentation ihrer Geschichten und die Zusammenarbeit mit Akteuren an Land. Annika hat als Augenzeugin miterlebt, was gerade auf dem Mittelmeer passiert, konnte Eindrücke aus erster Hand sammeln und den geretteten Menschen direkt begegnen. Wir haben Euch über unsere Social Media Kanäle die Möglichkeit gegeben, Fragen zu stellen, die Annika hier im Blog-Beitrag beantwortet.

Was war das Schwerste und was war das Schönste, das du an Bord erlebt hast? Wie kann man die Geschichten und Schicksale aushalten?

Es ist gar nicht so leicht, das Erlebte auf einzelne Momente herunterzubrechen. Wenn ich auf die Zeit an Bord zurückblicke, erscheinen die unendlich vielen Situationen und Geschichten auf dem sehr engen Raum des Schiffs wie in einem Brennglas zusammengefasst.

Am schwersten waren die oft schrecklichen Geschichten, die die Menschen in Libyen erlebt haben. Ich erinnere mich gut an einen jungen Mann aus Ghana, ich nenne ihn John, der mir von seiner Zeit in Libyen berichtete. In der Hoffnung, Arbeit zu finden und Geld zu seiner Mutter nach Hause schicken zu können, reiste er dorthin. In Libyen wurde er, wie so viele andere, willkürlich von lokalen Milizen verhaftet, ohne Lohn zur Arbeit gezwungen und gefoltert. Seine Mutter wurde um Lösegeld für seine Freilassung erpresst. Er zeigte mir seine Narben, die von flüssigem, heißem Plastik stammten, das sie ihm auf die Haut gegossen hatten. Es gibt sehr viele ähnliche Berichte, einige sind hier ausführlich von Ärzte ohne Grenzen dokumentiert.

Tatsächlich war „Libya is no good“ einer der Sätze, die ich am häufigsten von den Leuten an Bord gehört habe. Gut dokumentiert, unter anderem von den Vereinten Nationen, finden in Libyen systematisch schwere Menschenrechtsverletzungen wie Folter, Vergewaltigung und Versklavung bis hin zu Verbrechen gegen die Menschlichkeit statt. Nach internationalem Recht darf kein Mensch in ein Land zurückgebracht werden, in dem ihm oder ihr schwere Menschenrechtsverletzungen wie Folter drohen.*

Auch deswegen war es eine besonders schwere Situation, aus nächster Nähe einen illegalen „Pushback“, also eine gewaltsame Rückführung von Menschen auf einem Boot durch die libysche Küstenwache, zu erleben. Ich kann mich gut daran erinnern, wie die Libyer die Menschen von dem kleinen blauen Holzboot erst gewaltsam auf ihr Schiff holten, das Holzboot dann in Flammen steckten, und schließlich Richtung Libyen davonrasten. Die Menschen auf dem blauen Boot waren von dort geflohen und wurden jetzt, vor unseren Augen, genau dorthin zurückgebracht, wo ihnen wieder Folter, Vergewaltigung und Versklavung drohen. Zu wissen, dass die EU und ihre Mitgliedsstaaten die libysche Küstenwache seit Jahren finanziell und logistisch unterstützen, damit sie genau das tut, war und ist schwer auszuhalten.


8. Juni 2023: Die sog. libysche Küstenwache steckt ein Boot in Flammen, nachdem sie die fliehenden Menschen gewaltvoll auf ihr Boot gebracht haben, um sie nach Libyen zurückzubringen. Foto: MSF / Skye McKee

Besonders aufgewühlt und persönlich berührt haben mich auch die Geschichten zerrissener Familien. Es gab zum Beispiel zwei Schwestern aus Nigeria, elf und fünfzehn Jahre alt, die allein unterwegs waren. Die Eltern waren wahrscheinlich an HIV gestorben. Die ältere Schwester tat alles, um ihre kleine Schwester zu beschützen, obwohl sie selbst noch ein Kind war. Es gab auch die allein reisende Mutter mit ihren drei kleinen Kindern, deren vielleicht zehnjähriger Sohn nachts wach blieb, um auf seine Mutter und Geschwister aufzupassen.

Trotzdem und vielleicht gerade deswegen gab es auch viele sehr schöne Momente. Vor dem Hintergrund des Schrecklichen scheint die Schönheit des Menschseins oft noch stärker. Wenn wir Fußball spielten. Einfach aufs Meer schauten, das so schön und schrecklich zugleich ist. Oder als eine Gruppe aus Eritrea allen Widrigkeiten zum Trotz an Deck ihre bewegenden christlichen Gebetsgesänge und -tänze durchführte – während im Hintergrund Gerettete muslimischen Glaubens gen Mekka beten. Man weiß vorher nicht, ob und wie man das Erlebte aushalten kann. Mir hat es sehr geholfen, in einem starken Team an Bord zu arbeiten und vor allem auch diese schönen Momente mit den Geretteten zu erleben. Ich hatte dann oft das Gefühl: trotz allem sitzen wir doch im selben Boot – ganz wortwörtlich hier an Bord wie auch im übertragenen Sinne.


Eine junge Geflüchtete hat an Bord ein Bild gemacht. Foto: MSF / Skye McKee

Wie muss ich mir die Situation an Deck vorstellen, nachdem die Menschen gerettet wurden? Muss nach einer Rettung permanent um Vertrauen gekämpft werden?

Normalerweise war das Erste, was die Menschen nach der Rettung brauchten, aus ihren oft durchnässten und benzindurchtränkten Kleidern zu kommen, sich zu waschen und die Zähne zu putzen, um dann das erste Mal seit Langem in Sicherheit zu schlafen. Nach einer Rettung hatten wir einen Standardablauf, in dem zuerst die medizinischen Bedarfe priorisiert und später zum Beispiel Informationsgespräche und Gruppendiskussionen in verschiedenen Sprachen zum Thema internationaler Schutz geführt wurden. Eine Vertrauensbasis war meistens schnell da und viele Gerettete haben durch Mithelfen oder Übersetzen unsere Arbeit an Bord aktiv unterstützt. Einige nannten unser Schiff sogar liebevoll den „großen blauen Wal“ - das muss wohl ihre Perspektive aus dem kleinen Boot gewesen sein, als sie uns zum ersten Mal sahen.

Verschweigen muss man nicht, dass es natürlich auch zu Streitigkeiten gekommen ist. Die teilweise sehr großen Gruppen von Menschen (einmal hatten wir mehr als 600 Gerettete an Bord) mussten sich wenige Toiletten teilen, auf dem Boden schlafen und sprachen häufig nicht dieselbe Sprache. Erschwert wurde die Situation dadurch, dass wir durch die neue Praxis der italienischen Regierung oft in über 1000km entfernte Häfen fahren mussten, bevor wir die Geflüchteten an Land lassen durften, und deshalb mehrere Tage und Nächte mit den Menschen auf See waren.

Die Rolle unserer Kulturmediator:innen an Bord war unendlich wichtig. Einer von ihnen, Karam, war selbst Syrer und konnte wie kein anderer das Vertrauen der Menschen gewinnen. Wenn Zeit war, haben wir auch gemeinsam mit den Geretteten Aktivitäten durchgeführt und beispielsweise einen „barber shop“, also eine Art Friseursalon an Deck aufgemacht – was sehr beliebt war. Es ist ganz einfach aber bedeutet sehr viel, sich nach dem, was diese Menschen durchgemacht haben, die Haare waschen und schneiden zu können.


Gerettete schneiden sich gegenseitig an Bord die Haare. Foto: MSF / Skye McKee

Was kann ich tun? Wie kann ich selbst auf einem Schiff bei der Seenotrettung mithelfen und welche Fähigkeiten brauche ich dafür?

Die zivilen Seenotrettungsorganisationen informieren jeweils auf ihren Internetseiten zu den diversen Möglichkeiten, an Bord oder auch an Land mitzuhelfen. Besonders gesucht werden auf den Schiffen natürlich Menschen mit See- und Rettungserfahrung, um zum Beispiel auf den Beibooten (RHIBs) die Rettungen durchzuführen oder als Ingenieur:in oder Kapitän:in zu arbeiten. Es gibt aber auch Stellen an Bord, für die nicht zwingend Erfahrung auf See nötig ist: Kulturmediator:innen, die vor allem übersetzen und die „Brücke“ zwischen Geretteten und Crew darstellen, Ärzt:innen, Krankenpfleger:innen, Köch:innen, Kommunikationsexpert:innen oder Personen wie ich, Menschenrechtsbeauftragte bzw. Referent:in für humanitäre Angelegenheiten, werden gebraucht.

Besonders habe ich auf dem Schiff allerdings auch dies gelernt: Die Unterstützung an Land ist extrem wichtig! In meinem bisherigen Engagement an Land fühlte ich mich oft zu weit weg und so, als würde ich „nicht genug“ tun. Die Perspektive vom Schiff hat mir aber deutlich gemacht, wie sehr alles zusammenhängt. Es ist zum Beispiel unmöglich, nur vom Schiff aus effektive Öffentlichkeitsarbeit zu machen, Fundraising zu betreiben und die Strukturen aufrechtzuerhalten, die zwingend notwendig sind, um Seenotrettungseinsätze durchzuführen. Ganz zu schweigen von der Erleichterung des Ankommens und der Integration der Geflüchteten. Deshalb meine unbedingte Ermutigung an alle: Die Unterstützung an Land ist aus meiner Sicht genauso wichtig wie die auf See! Jede und jeder kann hier etwas beitragen.

Was macht dir Hoffnung?

Hoffnung macht mir, dass viele Menschen an Bord trotz allem den Blick nach vorne richten konnten. Ich habe eine allein reisende Frau aus Nigeria getroffen, die schwanger zu uns an Bord kam, von schlimmen sexuellen Misshandlungen in Libyen berichtete und trotzdem diejenige war, die anfing Italienisch zu lernen und noch andere motivierte, mitzumachen. Ich erinnere mich an die Gruppe befreundeter Männer aus Bangladesch, die mir erzählten wie ihre Häuser mehrfach von Überflutungen weggeschwemmt wurden und sie keinen anderen Ausweg sahen, als in Libyen Arbeit zu suchen, während wir das Kartenspiel „29“ spielten, das sie vergeblich versuchten, mir beizubringen. Ich denke an den Herrn, der aus dem englischsprachigen, bürgerkriegsgeplagten Teil Kameruns kam, lange in Libyen gewesen war und der einen Dankesbrief an unsere Crew verfasste, den er unbedingt vorlesen wollte.

Ich habe oft gedacht: „Gott, was für ein Wunder die menschliche Seele ist.“ Diese Menschen hatten Hoffnung. Wie könnte ich sie da nicht haben? Wir dürfen niemals vergessen, dass es hier nicht um Zahlen, sondern um einzelne Menschen geht. Menschen mit Geschichten, Träumen, Hoffnungen – und Rechten. „Man lässt keine Menschen ertrinken. Punkt.“ Das ist unbedingter Auftrag für jede und jeden in Europa. Denn die Lage auf dem Mittelmeer ist keine Naturkatastrophe. Die politischen Entscheidungen der EU-Staaten sind direkt für die Situation mitverantwortlich. Und wir können sie beeinflussen. Wie wir uns dazu verhalten, zeigt, wer wir sind.


Kartenspielen an Bord. Foto: MSF / Skye McKee

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* Das in der Genfer Flüchtlingskonvention von 1951 verankerte Prinzip der Nichtzurückweisung (Non-Refoulement) ist ein weltweit gültiger Grundsatz, der im Völkerrecht verankert ist. Es verbietet Staaten die Rückführung von Menschen in Länder, in denen ihnen Folter oder andere schwere Menschenrechtsverletzungen drohen. Dazu gehört auch Libyen, das nicht als sicherer Ort angesehen werden kann. Alle EU-Mitgliedstaaten haben – im Gegensatz zu Libyen – die Genfer Konvention unterzeichnet und ratifiziert.

Fotos: MSF / Skye McKee

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