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02.11.2022

Interview: Was bedeutet der Rechtsruck in Italien für die Seenotrettung?

Constanze Reuscher ist seit 30 Jahren Journalistin in Italien. Sie schreibt für deutsche und italienische Medien über Politik und arbeitete zuletzt auch für den ehemaligen Bürgermeister von Palermo, Leoluca Orlando. In dieser Rolle engagierte sie sich besonders stark für das Thema Seenotrettung und war unter anderem bei der Gründungskonferenz von United4Rescue dabei. Constanze Reuscher lebt mit ihrer deutsch-italienischen Familie in Rom. Wir haben am 2. November 2022 mit ihr über die Folgen des Rechtsrucks in Italien gesprochen.

Constanze, du bist langjährige politische Beobachterin in Italien. Wie konnte es zu diesem Wahlergebnis kommen?

Einer der wichtigsten Gründe ist wahrscheinlich, dass Italien seit 2011 verschiedene Technokraten-Regierungen oder politische Regierungen hatte, die nicht auf klaren Mehrheiten beruhten. Viele Entscheidungen dieser Regierungen haben Unmut bei den Wählerinnen und Wählern hervorgerufen, zum Beispiel die strenge Linie in der Pandemie. Die wirtschaftlichen Bedingungen in den letzten zehn Jahren haben auch nicht dazu beigetragen, dass die Menschen zufriedener sind. Das ist auch durch die Eurokrise 2013 bis 2015, die in Italien sehr viel stärkere Narben hinterlassen hat als in anderen europäischen Ländern.

Dann kam die Pandemie dazu und natürlich der Ukraine-Krieg. Viele Menschen haben Angst und flüchten sich in diese rechte Regierung und in die rechte Ministerpräsidentin Giorgia Meloni. Sie hoffen offensichtlich, auch in einer Art nostalgischer Verklärung von Recht und Ordnung und Nationalstolz, dass sie dem Land eine Art Sicherheit zurückgeben kann.

Dazu kam, dass es den drei wesentlichen Parteien aus dem Mitte-Links-Lager nicht gelungen ist, sich zu einem Wahlbündnis zu vereinen. Zusammen hätten diese drei Parteien eigentlich ähnlich viele Stimmen gehabt wie das Rechtsbündnis um Giorgia Meloni. Diese wiederum ist mit ihrer Partei “Brüder Italiens“, der „Forza Italia” von Silvio Berlusconi und der “Lega” von Matteo Salvini geschlossen angetreten – und hat letztendlich die Wahl gewonnen.

Die Regierung um Giorgia Meloni hat mittlerweile ihre Arbeit aufgenommen. Welche politischen Auswirkungen siehst Du für die Seenotrettung und die Migrationspolitik Italiens?

Es gibt jetzt seit zwei Tagen (Stand: 2.11.2022, Anm. d. Red.) ein neues Dekret. Die Anordnung beschreibt, dass die Häfen geschlossen und keine Rettungsschiffe anderer Flaggenstaaten, die Geflüchtete in Italien an Land bringen wollen, reingelassen werden sollen. Ich weiß nicht, inwieweit die Behörden diese Vorgabe umsetzen werden, aber auf Malta wird es so ja schon seit Jahren praktiziert.

Der neue Innenminister Matteo Piantedosi ist außerdem ein echter Hardliner. Während Matteo Salvini ein Politiker ist, der vor allen Dingen auf Wählerzahlen schielt und Lärm macht, ist Piantedosi jemand, der Gesetze schreibt.

Eine weitere wichtige neue Entwicklung ist, dass Salvini damals als Innenminister zwar Dinge durchsetzen konnte, sich trotzdem aber auch an die Meinungen seiner Regierungskoalition unter anderem mit der 5-Sterne-Bewegung anpassen musste. Jetzt ist das anders, an der Regierung sind klar rechte Parteien. Ministerpräsidentin Georgia Meloni möchte selbst eine Seeblockade durchsetzen und es ist zu erwarten, dass Italien mit Libyen eine Art Seeblockade aushandeln wird, bei der die libysche Küstenwache die Schiffe abfangen soll. So wären die Seenotrettungsorganisationen gar nicht mehr in der Lage, Leben zu retten.

In diesen Tagen erleben wir, dass die italienischen Behörden die Rettungsschiffe unheimlich lange warten lassen, bis sie sie in einen Hafen einfahren lassen.

Was wir hier erleben, ist nicht nur unmenschlich. Es wird ein breiteres Problem für die Organisationen sein, unter anderem auch ein finanzielles Problem. Denn es ist natürlich wahnsinnig teuer, die Schiffe so lange auf dem Meer zu lassen und nicht zu wissen wie lange. Wo sollen die Geflüchteten hingebracht werden? Das ist ein ganz praktisches Problem.

Innenminister Piantedosi hat außerdem gesagt, dass die Arbeit der Seenotrettungsorganisationen nicht “im Geiste” der europäischen und italienischen Rechtsnormen sei. Aber die Normen und Gesetze, die die Seenotrettung regeln, sehen vor, dass Menschenleben in jedem Fall gerettet werden müssen. Wie kann man diese Normen so auslegen, dass die Seenotrettung nicht im Geiste dieser Normen ist? Das ist eine willkürliche Auslegung der Gesetze und eine große Gefahr.

Als zivilgesellschaftliches Bündnis interessiert uns besonders, welche Auswirkungen diese neue Politik auf die solidarische Zivilgesellschaft in Italien hat?

In den letzten zehn Tagen sind zwei wichtige Dinge passiert: eine Demonstration von eher linken Studierenden an der Römischen Universität La Sapienza und eine Rave-Party in Modena. Bei beiden Veranstaltungen wurden Teilnehmende mit Polizeigewalt unterdrückt. Es sind die ersten Aktionen von Innenminister Piantedosi in dieser Regierung, mit denen er zeigt, wie er vorgehen will. Piantedosi hat in diesem Zusammenhang unter anderem auch angekündigt, er würde gerne einen Lauschangriff auf junge Menschen starten, die zum Beispiel demonstrieren wollen. Das ist zum Glück verhindert worden und sogar Giorgia Meloni hat gesagt, das ginge zu weit. Aber was Piantedosi vorhat und auf welcher Ebene er versucht zu handeln, wird hier ganz deutlich. Mein jüngster Sohn ist 18 und sehr engagiert in der Schulpolitik. Ich merke, wie intensiv die Diskussion in den Schülergruppen geworden ist, wie viel Angst umgeht. Sie demonstrieren dann trotzdem, nur ist es ein ganz neues Klima. Auch viele Eltern sind sehr besorgt.

Das betrifft möglicherweise nicht die humanitäre Arbeit im Land. Aber in der Zivilgesellschaft herrscht – zumindest in derjenigen, die gegen diese Regierung ist –, eine starke Nervosität.

Schlagen wir die Brücke nach Deutschland: Was sollte unsere Regierung für die Seenotrettung tun?

Sie sollte unbedingt aktiv werden, und zwar so schnell wie möglich. Frau Baerbock sollte zum Beispiel ganz dringend den italienischen Außenminister Tajani treffen. Er hat ja an die Regierungen in Norwegen und Deutschland geschrieben, weil Piantedosi vorhat, dass die Flaggenstaaten der jeweiligen Rettungsschiffe sich um die Geflüchteten kümmern müssten. Die deutsche Regierung darf nicht nur freundlich Frau Meloni beglückwünschen, sondern sie sollte ganz klar ansagen, wie sie die rechtliche Lage sieht, und dass sie hinter der Seenotrettung steht. Die deutsche Regierung sollte da absolut entschiedener reagieren.

Und die Zivilgesellschaft?

Die Medien sollten sich mehr mit dem Thema befassen. Sie befassen sich natürlich mit der neuen Regierung und wenn es mal eine Nachricht gibt wie jetzt die über die Schiffe, die nicht an Land dürfen. Aber es darf nicht bei diesen Nachrichten bleiben. Die Journalistinnen und Journalisten sollten die Lage im Land beschreiben, die Stimmung in Italien. Denn das wirkliche politische Drama ist, dass das Land so gespalten wird. Die Fronten werden sich verhärten, weil die rechte Regierung es so will. Sie will ihre Linie durchsetzen, und das geht nicht im Dialog. Und das ist das große politische Risiko. Ja, was wir alle tun müssen: Wir müssen viel miteinander reden und viel übereinander berichten. Und wir dürfen uns als Zivilgesellschaft in Italien natürlich nicht einschüchtern lassen, das ist ganz klar.

Danke für das Interview!

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