20.12.2022
Allein in einem fremden Land, die Eltern weit weg: Unter den Menschen, die über das Mittelmeer nach Europa fliehen, sind auch viele unbegleitete Kinder und Jugendliche. Wie geht es ihnen nach ihrer Ankunft in Deutschland? Wie erleben sie die Trennung von ihren Eltern, und wie verarbeiten sie die Erlebnisse von ihrer Flucht? Darüber sprechen wir mit der Kinder- und Jugendtherapeutin Sophie Schlotthauer. Sophie arbeitet in einer psychotherapeutischen Praxis für Kinder und Jugendliche sowie in einer Organisation, die geflüchteten Menschen psychologische und sozialpädagogische Hilfe bietet. Mit Projekt:Notfallkoffer hat sie vor kurzem eine Initiative zur seelischen Unterstützung traumatisierter Geflüchteter gestartet.
An Weihnachten kommen viele Familien traditionell zusammen. Die geflüchteten Kinder und Jugendlichen, mit denen Du im Psychosozialen Zentrum arbeitest, sind häufig von ihren Eltern und Geschwistern getrennt. Was macht das mit Kindern, wenn sie ihre Eltern für so lange Zeit nicht sehen können?
Gerade die unbegleiteten geflüchteten Kinder und Jugendlichen haben sehr damit zu kämpfen, dass ihre Familien nicht mit ihnen in Deutschland sind. Meist sind es die Erstgeborenen, für die die ganze Familie Geld gesammelt hat, um die Flucht zu ermöglichen. Immer verbunden mit der Hoffnung, später die Familie nachholen zu können. Sie tragen damit enorm viel Verantwortung und stehen unter großem Druck. Dabei sind es oft erst 15-jährige Jugendliche, die eigentlich dringend ihre Eltern bräuchten.
Der Kontakt zwischen den Kindern und ihren Familien ist meist nur sporadisch oder über mehrere Ecken möglich. Viele berichten, dass sie durch das schlechte Telefonnetz im Herkunftsland oft nur ein Mal im Monat eine Nachricht von Zuhause bekommen. Nicht selten wissen die Kinder allerdings gar nicht, wo ihre Familie aktuell ist oder ob ihre Angehörigen noch am Leben sind. Diese Ungewissheit ist unglaublich schwer auszuhalten.
Meist äußern sich diese Gefühle in Symptomen wie Schlafstörungen, Konzentrationsschwierigkeiten und Hoffnungs- und Antriebslosigkeit. Diese Beschwerden zu erklären, in den Kontext ihrer traumatischen Erlebnisse einzuordnen und dadurch auch zu „normalisieren“, ist ein wesentlicher Teil der therapeutischen Arbeit.
Wie kannst du die Kinder und Jugendlichen als Therapeutin unterstützen?
Den Schmerz, unfreiwilligerweise so weit entfernt von der Familie zu sein, kann einem niemand nehmen. In den Gesprächen höre ich die Geschichten der Kinder und halte mit ihnen gemeinsam ihre Sorgen und Traurigkeit aus. Einen Ort für all die Gefühle zu schaffen, an dem man sie nicht alleine aushalten muss, ist sehr wichtig und heilsam. Dabei erfahren sie kleine Tipps und Hilfestellungen, um sich selbst bei aufsteigender Panik und Angst beruhigen zu können. Alleine das Wissen um die eigene Fähigkeit der Selbstregulation gibt Sicherheit und bietet die Möglichkeit für unbedingt notwendige Selbstwirksamkeitserfahrungen.
Neben der Würdigung des Leids, das ihnen widerfahren ist, versuche ich mit den Kindern den Blick auf die Zukunft und neue Hoffnung zu lenken. Indem wir gemeinsam schauen, welche Ressourcen ihnen zur Verfügung stehen, gelingt es leichter, diese auch zu aktivieren und zu nutzen. Ist ein Kind zum Beispiel sehr kreativ, kann man es zum Malen oder Musizieren motivieren, so dass es darin einen Ausdruck seiner oder ihrer Gefühle finden kann. Die Familie ist für die Zukunftsperspektive ein wichtiger Motor. So wollen viele Kinder ihre Eltern stolz machen, Deutsch lernen und einen Schulabschluss erreichen.
Was können Ehrenamtliche oder Betreuer:innen tun?
Ehrenamtliche Betreuer:innen tun wahnsinnig viel, indem sie die Kinder unterstützen, in Deutschland anzukommen. All die bürokratische Organisation, das Vereinbaren von Terminen und das Finden von Vereinen wäre ohne ihre Unterstützung kaum möglich. Aber die wichtigste Unterstützung durch Ehrenamtliche ist die menschliche, wohlwollende Fürsorge und langfristige Verlässlichkeit. Die Kinder sind meist jahrelang mit dem Gefühl aufgewachsen, niemandem außer der Familie vertrauen zu können. Diese korrigierende Erfahrung mit Ehrenamtlichen ist unglaublich wertvoll.
Besonders im Zuge des russischen Angriffskrieges gab es europaweit und auch in Deutschland eine Welle an Hilfsangeboten und ehrenamtlich Helfenden. Dass diese Bereitschaft zur Unterstützung einen wesentlichen Unterschied macht, sehen wir in der Praxis in der teils sehr guten Versorgung ukrainischer Geflüchteter. Diese wünschen wir uns für alle Geflüchteten.
Berichten Dir die Kinder auch von ihrer Flucht über das Mittelmeer? Wie schaffen sie es, das Erlebte zu verarbeiten?
Detaillierte Berichte über die Flucht höre ich in der Kinder- und Jugendsprechstunde eher selten. Dadurch, dass traumatische Erfahrungen wie eine Flucht oft dazu führen, dass Erinnerungslücken entstehen, ist es für die Betroffenen meist schwierig, ihre Erfahrungen inhaltlich und chronologisch sinnvoll wiederzugeben.
Die Erlebnisse, die mir Kinder jedoch schildern, sind erschreckend. Nicht selten berichten sie, Angehörige, Freunde oder Bekannte, mit denen sie ihr Heimatland verlassen haben, auf dem offenen Meer verloren zu haben. Neben Trauer, Wut und Hoffnungslosigkeit hinterlässt eine solche Erfahrung auch oft ein Gefühl von Schuld. Viele Kinder fragen mich, wieso ausgerechnet sie diese Flucht überlebt haben. Es braucht nicht viel Fantasie, um zu erkennen, dass dieses Schuldgefühl, zusammen mit der in die Kinder gesteckten Hoffnung und Verantwortung und die zeitgleiche große Sehnsucht nach ihren Familien, nahezu unaushaltbar sind.
Umso wichtiger ist eine gute psychotherapeutische Versorgung, sollte diese indiziert sein. Leider stehen wir in dieser Hinsicht in Deutschland vor großen Herausforderungen. Die Wartelisten von niedergelassenen Therapeut:innen sind voll und die Hürde, zusätzlich mit Sprachmittlern:innen zu arbeiten, ist hoch. Und dennoch: Woche für Woche sitzen kluge und offene Kinder vor mir, die beginnen, die neue Sicherheit zu fühlen und Hoffnung zu schöpfen.
United4Rescue – Gemeinsam Retten e.V.
IBAN: DE93 1006 1006 1111 1111 93
BIC: GENODED1KDB
Bank für Kirche und Diakonie eG – KD-Bank
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