19.06.2023
Franziska Grillmeier ist Journalistin. Fünf Jahre lebte sie auf der griechischen Insel Lesbos, wo sich mit Moria jahrelang das größte Flüchtlingslager Europas befand. Über die Situation entlang der Europäischen Grenzen und die Lebenslinien der Geflüchteten auf der Insel berichtet sie für ZEIT Online, taz, SZ, WDR und BBC. Zuletzt war sie Mitglied des Recherchekollektivs zu den neuen Aufnahmelagern "Das neue Moria" für das ZDF Magazin Royale, Ippen Investigativ und FragDenStaat, sowie Teil des Doku-Podcasts "Memento Moria".
Gerade erschien ihr Buch "Die Insel", das vier Jahre protokolliert, in denen in Europa eine tiefgreifende Veränderung stattgefunden hat. Ihr Buch erzählt vom Alltag an Europas Grenzen und den systematischen Rechtsbrüchen, die dort tagtäglich begangen werden. Wir haben Franziska Grillmeier gefragt, wie es ist, auf Lesbos zu Hause zu sein und was ihre journalistische Arbeit für sie persönlich bedeutet.
Wie ist es dazu gekommen, dass Du nach Lesbos gezogen bist?
Im Herbst 2018 reiste ich für eine Recherche auf die Insel und mietete eine kleine Wohnung für die Zeit. Aus zwei Wochen sind fünf lange Winter geworden, für die ich sehr dankbar bin.
Du kommst den betroffenen, entrechteten Menschen sehr nah. Wie, glaubst Du, nehmen sie dich wahr? Was erzählen sie Dir?
Wenn ich Menschen in Moria oder ähnlichen Orten treffe, an denen der Ausnahmezustand zum Dauerzustand geworden ist, höre ich oft: „Hast du die Frau da hinten schon gesprochen? Sie steckt in einer noch schlimmeren Situation.“ Trotz ihrer eigenen Not fordern viele Zeugenschaft zunächst für andere ein – und erst später für sich selbst. Nach dem ersten Blickkontakt bei einer Begegnung gibt es meist eine kurze Pause. Eine Art Luftholen, bevor ein tieferes Gespräch beginnt. Es ist eine Art Abtasten. Wer stellt schon wieder Fragen? Ist es eine Polizistin, eine Anwältin, oder jemand von der Asylbehörde? Der schönste Moment ist dann, wenn die Menschen verstehen, dass sie keiner Behörde gegenüber sitzen und frei erzählen können, wenn sie das möchten. Dann geht es auch mal um ihr Lieblingsessen oder die neuesten Fußballergebnisse. Manchmal erzählt auch die Stille zwischen den Gesprächen viel davon, wer man ist oder wie man sich einrichtet an einem Ort, der einen nicht ankommen lassen will.
Was macht das Leiden und Sterben vor der eigenen Haustür mit Dir, aber auch mit der griechischen Inselbevölkerung?
Die Jahre haben natürlich Spuren hinterlassen. Die Welt, die man kennt, die ich auch in ein gewisses rechtsstaatliches Verständnis einbettete, bekam tiefe Risse. Diese Narben konnte ich auch bei der Inselbevölkerung immer dicker werden sehen. Viele Menschen auf Lesbos wurden über den andauernden, orchestrierten Ausnahmezustand auf ihrer Insel sehr wütend. In Moria konnte man sehen, wie mit den Geflüchteten umgegangen wird. Andere sind müde geworden, blenden alles aus und bewegen sich wie in einer Parallelwelt, die nun einfacher aufzubauen ist, weil die Menschen in streng bewachten Hochsicherheitslagern stecken.
Eine Familie in einer selbst gebauten Unterkunft im Lager Moria. Foto: Ansgar Gilster
In Italien, auf Lampedusa zum Beispiel, sagte mir eine Inselbewohnerin vor ein paar Wochen, dass sie nur noch in den Fernsehnachrichten erfährt, was im Flüchtlingslager auf ihrer eigenen Insel passiert. Denn auf Lampedusa sind schon lange keine Geflüchteten mehr in den Straßen der Stadt zu sehen. Nach ihrer Ankunft werden die Menschen sofort in dem sogenannten „Hot Spot“-Lager isoliert.
Doch auch an anderen Orten lässt die systematische Gewalt gegenüber Asylsuchenden auch Spuren bei der Bevölkerung. Am Grenzzaun zwischen Bosnien-Herzegowina und Kroatien erzählte mir ein Anwohner, der direkt am Grenzfluss Glina lebt: „Der Krieg ist hier seit 26 Jahren vorbei. Als Soldat habe ich selbst so viele schlimme Dinge gesehen, jetzt wiederholen sie sich jeden Tag vor meiner Haustür.“ Er meint damit die illegalen Pushbacks der kroatischen Grenzschützer. Sie misshandeln systematisch die Menschen, die es versuchen, über den Wald oder den Fluss über die Grenze in die Europäische Union zu schaffen, schlagen sie teilweise zusammen oder werfen sie buchstäblich zurück in den Fluss.
Diese systematischen Zurückweisungen gibt es auch in Griechenland. Erst im Mai veröffentlichte die New York Times ein Video, das lückenlos beweist, wie die Behörden Schutzsuchende an Land entführen und auf offenem Meer aussetzen. Solche Bilder werden im griechischen Fernsehen nicht in den Abendnachrichten gezeigt.
Kannst Du frei über die Zustände auf den ägäischen Inseln berichten oder erlebst Du auch Einschränkungen der Pressefreiheit, Drangsalierungen oder Schlimmeres?
Die Pressefreiheit an den EU-Außengrenzen wurde in den letzten Jahren enorm abgebaut. Schon zuvor war es schwierig mit Menschen in Kontakt zu kommen, die in einem Militärsperrgebiet sitzen, die in einem Abschiebezentrum sind oder an den Klippen mit einem Boot festhängen. Doch heute ist der Besuch in den griechischen Lagern nur mehr in geführten Pressetouren möglich, die Gerichtssäle sind für Journalisten oft versperrt und bei einem Bootankunft versperrt einem die Polizei den Weg, um keine Zeugenschaft zuzulassen. Wenn du hier auf Lesbos als geflüchtete Person mit dem Boot ankommst, sind da keine Hilfsorganisationen mehr, die dir eine Decke geben und darauf achten, dass die Behörden dich tatsächlich in den Bus zur Registrierung setzen – und nicht etwa wieder zurück aufs Meer zurückbringen. Die Entrechtung passiert jetzt im Verborgenen. Immer wenn es still ist, wird es wichtig nachzufragen, warum kaum mehr etwas zu hören ist.
Du hast nun ein Buch über deine Arbeit geschrieben. Warum?
Der mediale Fokus auf einzelne Ereignisse wie den Brand im Lager Moria (im September 2020, Anm. d. Red.), schafft es oft kaum, die größeren Zusammenhänge zu erklären – oder von den Menschen im Alltag dazwischen zu erzählen. In einem Buch ist das anders. Ich kann dort ausführlicher berichten und die akuten Situationen in Dialog bringen mit politischen Entscheidungen. Oder die Bezüge zu anderen „Tatorten“ der europäischen Abschottung aufzeigen, wo die Mechanismen ganz ähnlich sind.
Kinder spielen in der Nähe des Lagers Moria. Foto: Franziska Grillmeier
Moria gibt es heute nicht mehr. Wildpferde grasen jetzt in den überwucherten Ruinen des Lagers. Die Menschen, die in Moria leben mussten, sind weitergezogen. Dabei hinterließ dieser Ort tiefe Spuren in ihnen – und auch sie haben auf dem Gelände, auf der Insel, etwas hinterlassen. Es war mir wichtig, einige dieser Spuren nachzuzeichnen und die Geschichten dieser Menschen in dem Buch aufzubewahren.
An welche Fluchtgeschichte, an welche Deiner vielen Begegnungen mit Geflüchteten, denkst Du am häufigsten?
Am Anfang jeder Begegnung trenne ich sehr strikt zwischen der interviewten Person und meiner Rolle als Journalistin. Manchmal und über die Jahre, wenn mir Menschen wieder begegnen, wird diese Kategorisierung aber auch porös. Und ich stehe denjenigen, die ich vor Jahren in Moria oder anderswo begegnen durfte, auf einmal in Lissabon, Nordirland oder Berlin gegenüber. Diese Menschen und auch unsere Begegnungen und unser Wiedersehen sind es, weswegen ich anfangen konnte, zu schreiben.
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