16.05.2025
United4Rescue-Vereinsmitglied Annika Schlingheider ist im April und Mai 2025 zum zweiten Mal als Schutzbeauftragte an Bord unseres Bündnisschiff Humanity 1 im Einsatz. Hier veröffentlichen wir einige ihrer Tagebucheinträge.
22. April: Köln/Bonn Flughafen
Die Kontraste könnten nicht größer sein. Ich sitze am Flughafen, auf dem Weg von Köln nach Catania, Sizilien, von wo die Humanity 1 ablegen wird. Ein überteuertes Stück Flughafen-Pizza habe ich mir gegönnt, auf dem Weg durch den Flughafen wurde mir Parfüm und eine zusätzliche Reiseversicherung angeboten, die Flughafen-Mitarbeitenden haben mich und mein Gepäck gescannt, um die Sicherheit aller Fluggäste zu gewährleisten.
Die Kontraste könnten nicht größer sein zwischen dieser, meiner Reise, und der, auf die sich so viele Menschen seit Jahren über das Mittelmeer aufmachen müssen. Aufmachen müssen, weil sie in der Lotterie des Lebens ein anderes Los gezogen haben als ich.
Ich habe viele Geflüchtetencamps gesehen und war mehrfach auf dem Mittelmeer im Einsatz. Trotzdem trifft mich diese gleichzeitige Ungleichheit jedes Mal wieder: Während ich hier am Flughafen sitze, mein Stück Pizza esse, sitzen Menschen in Gefängnissen in Libyen, auf überfüllten Trucks irgendwo in der Wüste, in dreckigen Zeltflüchtlingslagern. Und es ist ein schlichter Fakt, dass ich einigen von ihnen, die in diesem Moment in genau so einer Situation sind, mit hoher Wahrscheinlichkeit begegnen werde – irgendwo auf dem Mittelmeer.
„Wieso steigen Geflüchtete nicht in ein Flugzeug, sondern kommen über solche illegalen und unsicheren Wege?“ Diese Frage habe ich oft gehört. Die Antwort ist wichtig: Es gibt so gut wie keine “legalen Wege”, einen Asylantrag in Deutschland zu stellen. In fast allen Fällen müssen Geflüchtete den Boden des Landes berühren, indem sie einen Asylantrag stellen möchten – und dafür ohne Visum die Grenze übertreten. Fluggesellschaften nehmen keine Menschen ohne Pass und ohne Visum mit. Einen Pass in einem Bürgerkriegsland zu beschaffen, ist meist unmöglich, humanitäre Visa gibt es so gut wie keine, humanitäre Aufnahmeprogramme haben nur sehr wenige Plätze oder werden gerade aktuell sogar ganz ausgesetzt, genauso wie der Familiennachzug. All das wären Perspektiven, sich nicht auf lebensgefährliche Wege wie über das Mittelmeer zu begeben – doch sie werden leider versperrt.
25. April: Siracusa (Italien)
Ich bin auf dem Schiff angekommen. Vor einem Jahr war ich schon einmal mit der Humanity 1 im Einsatz. Viele Erinnerungen kommen zurück, als ich auf das 60m lange blaue Schiff mit gelbem Herz am Bug zulaufe, das Deck wiedersehe, dessen Holzplanken mehr Geschichten erzählen als man sich vorstellen kann, in meiner kleinen Kabine mit roter Eckbank, Stockbett und runden Bullaugen-Fenster sitze.
Ich teile meine Kabine mit Marie, die als Menschenrechtsbeobachterin an Bord ist. “Bist du nervös?” fragen wir uns gegenseitig. Ja, wie kann man nicht nervös sein, vor einem Einsatz, bei dem unendlich viel passieren kann. Bei dem das Schlimmste – viele Menschen in akuter Lebensgefahr – schon längst passiert ist. Bei dem wir wissen, dass wir überfordert sein werden, vielleicht nicht alle Menschen retten können, von der sogenannten libyschen Küstenwache bedroht werden könnten. Bei meinem letzten Einsatz haben die Libyer sogar einen Schuss neben unser Beiboot abgegeben. Eigentlich ist es Wahnsinn – aber es ist auch die schlichte Realität. In den letzten zehn Jahren ist durchschnittlich ein Kind pro Tag im zentralen Mittelmeer ertrunken.
29. April: Mittelmeer
Wir sind auf See und führen unsere intensive Trainingswoche weiter. Was man von außen oft nicht sieht, ist, dass den Rettungseinsätzen zahlreiche Trainings vorausgehen. Die Trainings reichen von Sicherheitstrainings im Falle eines Feuers an Bord, hin zu den Abläufen an Deck, wenn Gerettete an Bord sind (Wie organisiert man eine Essensausteilung für über 200 Personen auf einem Schiff?!), bis zu verschiedensten medizinischen Notfallszenarien oder „How to Wifi“. Ich bin platt am Ende jeden Tages, gleichzeitig nimmt die Nervosität ab, wenn man die Crew besser kennenlernt und weiß: Jetzt geht es bald los.
Heute bin ich in einem Training mit den orangenen Beibooten (RHIBS) mitgefahren. Meine Rolle war, als Übungsperson von unserem Team gerettet zu werden. Kurz saß ich alleine auf einem kleinen Schlauchboot, um mich herum nur eine unendliche, wogende Wasserwüste. Allein das machte mir Angst. Wie um alles in der Welt müssen sich die Menschen fühlen, die in einer realen Notsituation sind – und nicht wie ich eine Rettungsweste tragen und wissen, dass das alles eigentlich eine Übung ist? Es ist mir einfach unbegreiflich.
Auch an Deck haben wir jetzt alles vorbereitet. Ich habe die Seifenspender aufgefüllt, das kleine Bücherregal an Deck aufgeräumt, Matten ausgerollt und jedes Mal gedacht: Für wen wird diese Seife das erste Mal seit Langem ein Gefühl von Sauberkeit in Sicherheit sein? Wer hat bereits in diesen Büchern geblättert, auf einer lebensgefährlichen Reise, die kurz auch auf unser Schiff trifft? Wer wird auf diesen Matten liegen, nachdem er oder sie vorher im Dunkeln auf den Wellen war?
Es fühlt sich an wie die Ruhe vor dem Sturm. Ich blicke auf den Kompass hier an Deck. Er wurde auf einem Schiff gefunden, das von der Humanity 1 gerettet wurde. Jetzt zeigt er hier die Himmelsrichtungen an, um Geretteten zu zeigen, wohin wir fahren oder um gen Mekka beten zu können.
30. April: Rettung
Es ist mitten in der Nacht, als über unsere Radios Vivianas Stimme ertönt. „All crew, all crew, get ready for rescue, get ready for rescue.“ Alles geht rasend schnell: Zehn Minuten, nachdem wir aus den Betten gerissen wurden, sind alle auf ihren Positionen, die RHIBS werden zu Wasser gelassen.
Ich stehe an Deck und schaue in die schwarze Nacht. Schwarze Wellen, schwarzer Himmel, ein tanzendes kleines Licht irgendwo dazwischen. Das ist das Boot voll verzweifelter Menschen, die in der Nacht, mitten auf dem Mittelmeer, in einem seeuntauglichen Boot sitzen und um Hilfe rufen. Auf diesem Boot ist auch Abdi*. Mir wird allein bei dem Gedanken schlecht, mir diese Situation vorzustellen: mit vielen Menschen, Kindern, in einem kleinen Boot zu sitzen, den Wellen, der Kälte, der Nacht, dem stinkenden Benzin schutzlos ausgeliefert zu sein.
Dieses Mal kommt unsere Hilfe rechtzeitig. Die Menschen werden mit den RHIBS auf die Humanity 1 gebracht. Es ist für mich jedes Mal ein absurder Moment, wenn die Leute zu uns an Deck kommen: der Übergang von einem Moment der unmittelbaren Todesgefahr, zu einem Moment der Sicherheit. Eine Sicherheit, die eigentlich jeder und jedem zusteht.
Meine Aufgabe bei einer Rettung an Deck ist, die Menschen zu registrieren. Das heißt auch, dass ich die erste Person bin, mit der die Geretteten ein paar Sätze wechseln. “Where are you from?” “How old are you?” “Do you have family members with you?”. Vielen hundert Menschen habe ich diese Fragen in diesem besonderen Moment bereits gestellt. Jedes Mal wieder, auch heute Nacht, blicke ich in Augen, die zu viel gesehen haben. Wir retten in dieser Nacht gleich zwei Boote. Wir haben jetzt 68 Menschen an Bord, darunter viele Frauen und Kinder.
1. Mai: Mittelmeer
Am Morgen des 1. Mai stehe ich an Deck und sehe die sogenannte libysche Küstenwache auf uns zu rasen. Die großen grauen Boote sehen für mich aus wie Haifische. Einschüchterungsversuche von ihnen sind leider “normal” - und sie sind gefährlich. Auch die Geretteten sind angespannt. Gerade sind sie der Hölle in Libyen entkommen – sie wissen, wozu diese sogenannte Küstenwache fähig ist. Zum Glück kommen die Libyer heute nicht sehr nah, vielleicht um ihrer brutalen und von der EU finanzierten Aufgabe nachzukommen, Menschen rechtswidrig zurück nach Libyen zu bringen, wo sie in vielen Fällen verkauft, versklavt und gefoltert werden. Viele dieser Geschichten habe ich schon gehört – auch heute höre ich sie an Bord wieder.
Zum Beispiel von Abdi*. Abdi* kommt aus Somalia, er ist schon vor vielen Jahren von dort geflohen. Er erzählt uns seine Geschichte: Er kommt aus einer Nomadenfamilie, wurde im anhaltenden somalischen Bürgerkrieg vertrieben und wollte eigentlich nach Äthiopien in ein Geflüchtetencamp. An der Grenze zwischen Äthiopien und Sudan wurde er jedoch von sudanesischen Milizen gefangen genommen und geriet für viele Jahre in den brutalen Kreislauf aus Versklavung, Gewalt, grenzübergreifendem Menschenhandel und Folter, dem so viele Menschen auf der Flucht ausgesetzt sind. Was er und andere an Bord erzählen ist mehr als ein FSK18 Film ertragen kann: von strategischen Foltermethoden, Handel mit Menschen für Rauschgift, Selbstmordversuchen, dem Aussetzen von Menschen in der Wüste und Freundinnen und Freunden, Brüdern und Schwestern, die vor den eigenen Augen sterben, ist die Rede. SOS Humanity hat in einem gerade veröffentlichten Bericht viele solcher Zeugenberichte zusammengetragen.
Ich sitze mit Abdi in der Klinik an Bord, blicke in seine Augen und frage mich wie so oft, was für ein Ort die Erde ist. In der Menschen sich diese Dinge antun – und gleichzeitig so viele Möglichkeiten haben, in Frieden zusammenzuleben. Abdi* scheint mir alt zu sein, gealtert durch das Leid, das er gesehen und selbst ertragen hat. Ich frage ihn nach seinem Alter. Er ist 23 Jahre alt – zehn Jahre jünger als ich.
2.-4. Mai: An Deck
Das Deck ist in diesen Tagen lebendig. Wo ich vor ein paar Tagen noch das Bücherregal aufgeräumt habe, herrscht jetzt reges Treiben. Der Tag hier an Bord hat eine klare Struktur: Frühstück gibt es um 9.00 Uhr, um 9.30 Uhr findet ein morgendliches Treffen statt. Danach ist die Klinik geöffnet, wir organisieren Informationsrunden z.B. über das italienische Asylsystem in verschiedenen Sprachen, andere Aktivitäten finden statt. Für die Kinder organisieren wir Mal- und Bastelaktionen. Mittagessen um 12.00, Abendessen um 18.00 Uhr. Es ist eine riesige Leistung der Köch:innen, nicht nur für die Crew, sondern auch für die Geretteten zu kochen. Wie einfach und doch wie selten, mit so unterschiedlichen Menschen zusammen an Deck zu essen.
Besonders berührt mich die Tatsache, dass wir sehr viele unbegleitete Minderjährige an Bord haben. Manche von ihnen sehen nicht älter als 13 oder 14 Jahre alt aus. Sie sind Teenager wie so viele auf der Welt, mögen Musik und sind auch an Deck fast nur in Gruppen zu finden. Aber als ich mich hinsetze, ein Bilderbuch aus dem Bücherregal nehme und darin blättere, kommen ein paar von ihnen zu mir. Sie blättern mit mir die Seiten um und freuen sich darüber, ein neues Tier auf jeder Seite zu entdecken. Man merkt: Es sind Kinder, die hier alleine über das Mittelmeer kommen. Es zerreißt mir das Herz, mir vorzustellen, wie viele von ihnen es nicht schaffen, und wie sehr diejenigen, die diese Überfahrt überleben, sich nach ihren Familien sehnen müssen. Allein in einem fremden Land. Man denkt an seine eigenen Geschwister, Kinder, Familien.
05. Mai: La Spezia (Italien)
Wir sind in La Spezia angekommen. Wieder einmal hat uns die italienische Regierung in einen mehr als 1.000 Seemeilen entfernten Hafen geschickt. Vier Tage haben wir mit den Geretteten an Bord verbracht, die eigentlich so schnell wie möglich an Land müssten. Das ist anstrengend und vor allem eine unglaubliche Vergeudung unserer Ressourcen. Mit unserem voll einsatzbereiten Rettungsschiff müssen wir viel zu lange Strecken hin- und herfahren und werden damit vom Einsatzgebiet ferngehalten.
Es regnet in La Spezia an diesem Morgen. Die Geretteten sind nervös: Was erwartet sie hier? Die Guardia di Finanza begleitet uns in den Hafen, das Rote Kreuz und die Caritas haben Zelte am Hafen aufgebaut, die Polizei ist vor Ort. Eine sogenannte “Disembarkation”, d.h. die Verbringung der Leute an Land, ist ein langer Prozess. Irgendwann am Nachmittag sind endlich alle 68 Menschen von Bord gegangen. Ich bete für sie.
Das Deck ist jetzt wieder leer gefegt. Ein paar bemalte Blätter flattern im Wind vor den grauen Wolken in La Spezia und erzählen von den vielen Leben, die hier gerade noch waren. Ich weiß nicht, wie ihre Reise weitergeht. Aber ich weiß, dass wir jetzt wieder rausfahren müssen.
*Name geändert
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