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14.12.2022
Im Rahmen der europäischen Abschottungspolitik werden in Griechenland und Italien Menschen, die auf ihrer Flucht ein Boot gesteuert haben, systematisch wegen „Schmuggels“ angeklagt. Weil die Organisator:innen/Profiteur:innen der Überfahrten gar nicht mit an Bord gehen oder das Boot früh verlassen, übernehmen Schutzsuchende notgedrungen selbst das Steuer – und werden bei ihrer Ankunft häufig verhaftet. Den Angeklagten droht jahrelange Haft, die Prozesse verstoßen in der Regel gegen grundlegende rechtsstaatliche Standards.
Der Verein borderline-europe – Menschenrechte ohne Grenzen e.V. unterstützt Menschen mit Rechtsbeistand, die wegen „Beihilfe zur unerlaubten Einreise“ in Italien und Griechenland kriminalisiert werden, unternimmt Prozessbeobachtung, Öffentlichkeitsarbeit und organisiert Solidaritätskampagnen. Unted4Rescue hat diese Arbeit 2022/23 mit 85.000 Euro gefördert. In diesem Interview sprechen wir über ihre Arbeit.
Wer seid ihr, was macht borderline-europe?
Wir sind ein gemeinnütziger Verein bestehend aus haupt- und ehrenamtlichen Aktivist:innen. Unser Ziel ist es, auf die tödlichen Konsequenzen des rassistischen europäischen Grenzregimes aufmerksam zu machen und aktiv Widerstand zu leisten. Neben unserem Büro in Berlin haben wir Büros in Palermo und Lesvos und erleben dort hautnah, welchen Bedingungen Menschen auf der Flucht an den europäischen Außengrenzen ausgesetzt sind. Durch Aufklärung, Öffentlichkeitsarbeit und Protest kämpfen wir für unsere Vision einer Welt, in der das Recht auf Bewegungsfreiheit nicht mehr nur für einen kleinen privilegierten Teil der Weltbevölkerung, sondern für alle gilt!
Warum gibt es euren Solifonds? Wen unterstützt ihr damit?
Unseren Solifonds gibt es, weil in Europa tagtäglich Menschen auf der Flucht verschiedenen Formen der Kriminalisierung ausgesetzt sind, die zum Teil mit hohen Haftstrafen enden. Das ist Teil einer Abschreckungsstrategie, die Menschen davon abhalten soll, Schutz in der EU zu suchen. Wir unterstützen insbesondere Menschen, die wegen der Steuerung des Bootes, mit dem sie selbst und andere Menschen auf der Flucht die EU erreicht haben, strafrechtlich verfolgt werden. Auch Menschen, die lediglich einen Kompass halten oder Wasser auf dem Boot verteilen, werden häufig der sog. „Beihilfe zur unerlaubten Einreise” – mit anderen Worten: des Schmuggels – beschuldigt. Nicht nur sind diese Anschuldigungen als solche bereits ein Angriff auf das Recht auf Asyl, die Auswahl der Angeklagten findet meist höchst willkürlich statt und die Verfahren weisen unzählige Mängel an Rechtsstaatlichkeit auf. Fehlende oder ungenügende Übersetzung, kaum Zugang zu ordentlicher Strafverteidigung und nachlässige Ermittlungen gehören zu den Erfahrungen, die die meisten Betroffenen in ihren Prozessen erleben. Mit unserem Solifonds möchten wir dieser systematischen Kriminalisierung etwas entgegensetzen – indem wir Angeklagten bei ihren Prozessen begleiten, uns um eine angemessen Strafverteidigung kümmern, u.a. bei der Zeug:innensuche unterstützen und uns um die nötige materielle und psychosoziale Unterstützung kümmern.
Wie erfahren die betroffenen Menschen von euch / wie findet ihr sie?
Die meisten Menschen werden direkt bei Ankunft verhaftet, sie ausfindig zu machen gehört dementsprechend zu den größten Herausforderungen. Wir arbeiten in einem großen Netzwerk aus Anwält:innen, Legal Clinics und Aktivist:innen, worüber wir von den Betroffenen erfahren. Zudem betreiben wir ein systematisches Monitoring der Presse und können so Verhaftungen nachverfolgen und in vielen Fällen per Brief Kontakt zu den Inhaftierten aufnehmen. In manchen Fällen nehmen auch Verwandte Kontakt zu uns auf, die gehört haben, dass wir in solchen Fällen unterstützen. Leider bleibt ein großer Teil der Fälle jedoch im Verborgenen, ohne dass Unterstützungsnetzwerke davon mitbekommen.
Kannst du an einem Beispiel beschreiben, wie eure Hilfe konkret aussieht?
Wir unterstützen weitestgehend Fälle in Griechenland und in Italien. Die beiden Kontexte unterscheiden sich in ihrer juristischen und sozialen Bedingungen jedoch deutlich voneinander. Die Unterstützungsarbeit am Einzelfall hängt sowohl vom allgemeinen Kontext als auch der individuellen Geschichte ab. In Griechenland organisieren wir in der Regel Rechtshilfe, unterstützen die Anwält:innen bei der Prozessvorbereitung durch Recherchearbeit o.ä., begleiten Verwandte und andere Zeug:innen bei ganz praktischen Dingen wie der Organisation ihrer Anreise und Unterkunft, sind wenn möglich selbst vor Ort, übernehmen alle notwendigen Kosten und machen, falls gewünscht, öffentlich auf den Fall und das Unrecht aufmerksam. Dabei involvieren wir unter anderem Journalist:innen und Politiker:innen, um den politischen Druck zu erhöhen. In Italien sind die Prozesskosten in der Regel durch den Staat gedeckt, aber auch dort begleiten wir aktiv die Prozesse und arbeiten eng mit den Unterstützungsstrukturen in den Gefängnissen zusammen, wo häufig das Nötigste fehlt. Durch regelmäßige Briefwechsel leisten wir psychosoziale Unterstützung für die Betroffenen.
Warum werden Menschen auf der Flucht kriminalisiert? Welches Kalkül steckt dahinter?
Menschen auf der Flucht werden kriminalisiert, um an Ihnen ein Exempel zu statuieren. Die Botschaft ist eindeutig: „Wer es wagt, nach Europa zu kommen, wird bestraft”. Das Narrativ der kriminellen Vereinigung eignet sich besonders gut als Feindbild. Dass die Betroffenen in vielen Fällen selbst Schutzsuchende sind, ist für die politische Botschaft irrelevant. Anstatt das Sterben auf dem Mittelmeer auf die unterlassene Hilfeleistung europäischer Autoritäten oder die Abwesenheit sicherer Einreisewege zurückzuführen, antwortet die Politik mit einer Ablenkungsstrategie: Es werden Sündenböcke gesucht. Junge Männer, die sich aufgrund fehlender Kenntnisse des Rechtssystems und der Sprache nur schwer gegen das Unrecht verteidigen können, werden für Ereignisse verantwortlich gemacht, die weit über ihre Person hinausgehen. Das Kalkül ist eine Mischung aus Ablenkung von der eigenen Verantwortung, Abschreckung und ein Zufriedenstellen derjenigen, die schnelle und einfache Lösungen präsentiert bekommen wollen. Die Verhaftung von Schmugglern ist ein einfach zu messendes Ergebnis, das aussagen soll, dass hart gegen die schlimmen Zustände vorgegangen wird. Nur leider wird das Problem an ganz falscher Stelle angegangen.
Wie können Privatpersonen oder Organisationen von Deutschland aus helfen?
Das Problem der Kriminalisierung von Migration muss von verschiedenen Richtungen aus angegangen werden, insbesondere von juristischer und politischer Seite. Für uns als Zivilgesellschaft gilt es, den sozialen Druck zu erhöhen, was am besten durch Information und Protest erreicht werden kann. Wir berichten regelmäßig von laufenden Gerichtsverfahren und starten Kampagnen für einzelne Fälle, an denen sich die brutale Systematik des Vorgehens besonders eindrücklich abzeichnet. Privatpersonen und Organisationen können als Multiplikator:innen helfen, dieses Wissen zu verbreiten und die Missstände gemeinsam anzuklagen. Natürlich sind auch finanzielle Unterstützung für unseren Solifonds eine große Hilfe, um die Prozesse weiterhin tragen zu können und die Arbeit am Laufen zu halten. Grundsätzlich ist es vor allem wichtig, nicht wegzusehen und dem Narrativ des kriminellen Schmugglers ein reales Gegenbild gegenüberzustellen.
United4Rescue – Gemeinsam Retten e.V.
IBAN: DE93 1006 1006 1111 1111 93
BIC: GENODED1KDB
Bank für Kirche und Diakonie eG – KD-Bank
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