09.12.2022
Europa hat nicht nur eine Außengrenze: Wie die EU Grenzen in Afrika aufrüstet
Um Menschen auf der Flucht schon vor der eigenen (Außen)grenze abzuwehren, ist die EU mit einer Reihe von afrikanischen Staaten Kooperationen eingegangen, sogenannte Migrationsabkommen. Dabei wird unter anderem der Grenzschutz ausgelagert – externalisiert. Wir sprechen mit Andreas Grünewald, Referent für Migration bei Brot, für die Welt über die Folgen.
Hallo Andreas! Kannst du einmal kurz erklären, worum es bei den Migrationsabkommen geht? Was wird da vereinbart?
Das wissen wir im Detail meist gar nicht. Bei den Kooperationen handelt es sich in der Regel nicht um offizielle Abkommen, sondern ein Bündel an oft informellen Maßnahmen. Den ursprünglichen Plan, offizielle Abkommen zu schließen, hat die EU wieder fallen lassen. Denn insbesondere das Kernanliegen der Europäer:innen – dass afrikanische Regierungen bei Abschiebungen kooperieren – sind bei der dortigen Bevölkerung sehr unpopulär.
Die Kooperationen beschränken sich aber bei weitem nicht auf den Themenkomplex Abschiebung und Rückführung. In den letzten Jahren hat die EU viel Geld investiert, um die Grenzen in Nord- und Westafrika aufzurüsten, Grenzbeamte zu trainieren und Gesetze auf den Weg zu bringen, die Migration innerhalb der Region weitgehend illegalisiert. Auch Frontex ist mittlerweile bereits in mehreren Ländern aktiv – und will demnächst offizielle Einsatzverträge mit Mauretanien und Senegal abschließen.
Welches Interesse verfolgt die EU mit diesen Abkommen?
Wie gesagt, offizielle Abkommen gibt es kaum. Aber es gibt mittlerweile kaum mehr Länder, die sich dem Druck der EU, bei der Implementierung einer restriktiven Migrationsagenda zu kooperieren, vollständig entziehen können. Denn die EU instrumentalisiert auch andere Politikfelder, wie Handels- oder Entwicklungspolitik, um migrationspolitische Ziele zu erreichen. Sie verfolgen den more for more bzw. den less for less Ansatz: Kooperative Staaten bekommen mehr – mehr Zugang zum europäischen Binnenmarkt, mehr Visa, mehr Entwicklungsgelder – unkooperative Staaten bekommen weniger.
Für die EU ist die Externalisierung ihrer Migrationspolitik eine zentrale Säule des geplanten neuen EU-Asyl- und Migrationspakts. Da sich die Mitgliedsstaaten nicht auf eine solidarische Verteilung von Asylsuchenden einigen können, und zudem immer mehr Regierungen Stimmungsmache gegen Migrant:innen machen, versucht die EU, ihre (innenpolitischen) Probleme auszulagern.
Juli 2022: Die EU-Kommissarin für Inneres, Ylva Johansson, trifft den nigrischen Innenminister Hamadou Adamou Souley. Quelle: Twitter
Es wäre aber falsch zu glauben, dass die EU mit ihrer Agenda 1:1 in den afrikanischen Ländern durchdringt. Denn einerseits ist Migration in den meisten dieser Länder positiv besetzt, andererseits profitieren viele Menschen von den Rücküberweisungen von Familienmitgliedern, die es nach Europa geschafft haben. Die afrikanischen Länder haben also kein genuines Interesse, Migration zu reglementieren. Dass viele Länder dennoch kooperieren, ist dem europäischen Druck geschuldet – und der Strategie einiger Regierungen, die Kooperation zu nutzen, um ihre Macht zu stärken. Sie rüsten ihre Sicherheitsapparate auf oder profitieren von zusätzlichen Entwicklungsgeldern. Tendenziell werden durch solche Kooperationen autoritäre Tendenzen in den “Partnerländern” gestärkt.
Was bedeuten die Kooperationen für die Menschen, die in der Region leben? Was sind die Folgen für Menschen auf der Flucht?
Für die Menschen bedeutet es erstmal eine massive Einschränkung ihrer Bewegungsfreiheit. In Westafrika findet 85 Prozent der Migration in der Region statt. Diese Migration, die oft saisonal und zirkulär ist, ist für viele Menschen eine wichtige Überlebensstrategie. Eine Strategie, die ihnen durch das Aufrüsten der innerafrikanischen Grenzen geraubt wird. Alarmphone Sahara, ein Partner von Brot für die Welt, hat deswegen Niger vor dem Gerichtshof der westafrikanischen Wirtschaftsgemeinschaft (ECOWAS) verklagt. Die Aktivisten von Alarmphone Sahara argumentieren, dass die Regierung von Niger mit ihrer durch die EU forcierten repressiven Migrationspolitik das ECOWAS-Freizügigkeitsprotokoll verletze. Zugleich wird der Handlungsspielraum für die Zivilgesellschaft in der Region immer geringer, sie geraten zunehmend ins Visier autoritärer Regierungen.
Für die Menschen auf der Flucht sind die Folgen katastrophal. Sie müssen immer gefährlichere Routen durch die Sahara nehmen, um Kontrollen zu entgehen. Zudem bleiben sie immer wieder auf dem Weg hängen, können oft weder vor noch zurück. Besonders bedrückend ist die Situation derzeit an der algerisch-nigrischen Grenze. Algerien schiebt massenhaft Menschen ab, indem sie sie mitten in der Wüste absetzen. Von dort müssen die Menschen 12 km laufen, um zur nächsten kleinen Siedlung zu gelangen. Doch die Unterstützungsstrukturen sind in den letzten Wochen zusammengebrochen, es fehlt an allem: Trinken, Essen, Schutz vor Kälte in der Nacht und vor Hitze und Wind untertags.
Wie könnte eine Migrationspolitik auf Augenhöhe aussehen?
Die EU-Staaten sollten erstmal ihre Hausaufgaben machen und sich auf eine solidarische Verteilung von Asylsuchenden einigen. Das würde den Druck von den Mitgliedsländern an den Außengrenzen abbauen. Leider ist eine solche Einigung aufgrund der vielen rechten Regierungen in Europa derzeit sehr unwahrscheinlich.
Was die Kooperation mit Herkunfts- und Transitländern angeht: Bei der Gestaltung dieser Politik dürfen nicht nur europäische Interessen berücksichtigt werden. Derzeit wird die EU-Politik im Sahel weitgehend von Innenpolitiker*innen in Europa gemacht, die nur an Abschottung denken. Das muss aufhören. Nur ein sehr geringer Teil der Menschen der Region will überhaupt nach Europa. Wir müssen endlich verstehen, welche Rolle Migration in der Region spielt, und welche Interessen die jeweiligen Länder haben – Interessen nach sozialer Sicherheit, nach Frieden und stabilen demokratischen Strukturen. Hier müssen wir den Ländern ehrliche Angebote machen, regionale Migration wieder ermöglichen und fördern, und endlich auch legale Migrations- und Fluchtwege schaffen. Nur so können wir Migrationspartnerschaften gestalten, die auch wirklich diesen Namen verdienen.