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05.09.2024

Nothilfe an der französisch-britischen Grenze

Jedes Jahr versuchen zehntausende Geflüchtete, Großbritannien per Boot aus Frankreich zu erreichen. Immer wieder kommt es dabei zu Schiffbrüchen. Erst vor zwei Tagen kenterte ein Boot mit rund 80 Menschen an Bord, mindestens 12 Menschen ertranken. Auf Druck aus London versucht die französische Polizei, die Abfahrten zu verhindern und geht teilweise gewaltsam gegen die Menschen in den Booten vor. Das führt zu überstürzten Aufbrüchen und überfüllten Booten, weshalb viele Unglücke unmittelbar in Küstennähe stattfinden.

Die französische Organisation Utopia 56 betreibt an der Nordküste Frankreichs eine Notrufnummer und hilft Menschen, die durchnässt und unterkühlt zurück an Land kommen. United4Rescue unterstützt die Nothilfe-Einsätze im Jahr 2024 mit 50.000 Euro. Wir haben mit Emeline Hardy von Utopia 56 über ihre lebensrettenden Einsätze gesprochen.

Was macht Utopia 56?

Utopia 56 ist eine französische Nichtregierungsorganisation, die Ende 2015 gegründet wurde. Zu der Zeit saßen etwa 10.000 Vertriebene an der Grenze im „Dschungel von Calais“ fest. Sie wollten den Ärmelkanal überqueren, um in Großbritannien Asyl zu beantragen. Unser anfängliches Ziel war ganz einfach: Bürgerinnen und Bürger zu mobilisieren, um diese Menschen mit Spenden zu unterstützen. Seitdem haben wir uns zu einer nationalen Organisation entwickelt, die sich um Geflüchtete in ganz Frankreich kümmert.

Unser Ziel ist es, die Aufnahme- und Lebensbedingungen von Vertriebenen in Frankreich zu verbessern und ihre Rechte zu verteidigen, insbesondere das Recht auf eine angemessene Unterkunft. Gleichzeitig wollen wir eine solidarische Gesellschaft schaffen, in der sich Geflüchtete willkommen fühlen. Wir mobilisieren und organisieren Teams von Freiwilligen – jeden Tag etwa 200 in ganz Frankreich – und unterstützen und kooperieren mit verschiedenen Verbänden und anderen Gruppen.

An der nordfranzösischen Küste betreibt ihr eine Notrufnummer für Menschen, die versuchen, den Ärmelkanal zu überqueren. Warum habt ihr das Projekt gestartet?

Wir hatten schon vorher eine 24-Stunden-Notfall-Hotline in der Region, bei der die Menschen um Hilfe für dringende Bedürfnisse bitten konnten. Angesichts der zunehmenden Versuche, die Grenze mit dem Boot zu überqueren, wurden wir immer wieder auch von Menschen angerufen, die auf dem Meer oder am Strand in Not geraten sind. Daraufhin haben wir im Jahr 2022 ein neues Projekt speziell für die Hilfe für Schiffbrüchige und Gestrandete gestartet.

Die ehrenamtlichen Teams verteilen Rettungsdecken, trockene Kleidung und heiße Getränke. Foto: Utopia 56

Die Situation an der französisch-britischen Grenze verschlimmert sich immer mehr, da die Polizei, die für die Kontrolle der Grenzübertritte zuständig ist, immer mehr Gewalt gegen die Vertriebenen ausübt. Gegenüber der Öffentlichkeit rechtfertigt die Polizei ihr gewaltsames Vorgehen damit, „Leben zu retten“. Mehr Polizisten, die mit besserer Ausrüstung (wie Infrarotkameras, Drohnen und Dünenbuggys) ausgestattet sind, halten die Menschen jedoch nicht davon ab, sich auf die gefährliche Reise zu begeben. Vielmehr treibt dieser Druck Menschen, die die Grenze überschreiten wollen, direkt in die Hände von Schmugglern. Sie sind ihre einzige Hoffnung, einen Weg ins Vereinigte Königreich zu finden.

Weil die Menschen verzweifelt sind, gehen sie mehr Risiken ein, indem sie von abgelegenen Stränden weiter südlich übersetzen und in sehr überfüllte Schlauchboote steigen. Verwirrung und Verzweiflung führen zu chaotischen Situationen bei der Abfahrt, in denen Menschen nass werden, sich verletzen oder zurückbleiben. Bis jetzt sind in diesem Jahr mindestens 35 Menschen auf See gestorben, im Vergleich zu 13 im gesamten letzten Jahr, von den Vermissten ganz zu schweigen. Das ist das tödlichste Jahr in der Geschichte des Ärmelkanals.

Wie sieht eure Notfallhilfe konkret aus?

Wir klären über die Risiken der Überfahrt auf und informieren darüber, wie die Menschen in einem Notfall auf See oder an Land Hilfe rufen können. Wenn uns Menschen in Seenot anrufen, informieren wir die Rettungsteams auf der britischen und französischen Seite. Dann überwachen wir die Aktivitäten der Küstenwache, um sicherzustellen, dass Hilfe unterwegs ist. Wenn sie zu einem Hafen an der französischen Küste zurückkehren, schicken wir unser Team dorthin, um zu überprüfen, dass alles in Ordnung ist und die Menschen die richtige Unterstützung erhalten.

Ein Flyer informiert über die Risiken der Überfahrt und wie im Notfall Hilfe gerufen werden kan. Foto: Cyril Catalan

Wenn die Wetterbedingungen für eine Überfahrt günstig sind, führen wir zusätzliche Patrouillen an der Küste durch, um früher einzugreifen und die Menschen zu erreichen, die sonst keinen Kontakt zu uns aufnehmen können. Wir versorgen die Menschen mit lebensrettenden Decken, trockener Kleidung, heißen Getränken und Lebensmitteln. Außerdem versuchen wir, ihnen bei Bedarf Zugang zu einer Unterkunft und medizinischer Versorgung zu verschaffen.

Darüber hinaus dokumentieren wir die Geschehnisse an der französisch-britischen Grenze und machen auf die Gewalt aufmerksam, die von Polizeibeamten gegen Geflüchtete ausgeübt wird. Damit bringen wir die Behörden dazu, lebensrettende Maßnahmen zu ergreifen, anstatt nur auf Abschreckung zu setzen. Außerdem fordern wir mehr Mittel für langfristige Lösungen, wie sichere und legale Überquerungswege.

Woher kommen die Menschen und warum versuchen sie, den Kanal zu überqueren?

Die meisten Menschen kommen aus Afghanistan, Äthiopien, Eritrea, Iran, Irak, Somalia, Sudan und Syrien, auch viele Kurden sind darunter. Im Sommer 2022 kamen Tausende Albaner über die Grenze, und in diesem Jahr viele Menschen mit vietnamesischer Staatsangehörigkeit.

Ihre Gründe für die Überfahrt nach Großbritannien sind vielfältig: Natürlich spielen Sprachkenntnisse eine große Rolle, aber die Menschen haben dort oft auch Verwandte oder Kontakte, die ihnen helfen können, eine Unterkunft und einen Arbeitsplatz zu finden. Andere haben bereits an verschiedenen anderen Orten versucht, sich niederzulassen, und es erscheint ihnen als die einzige Option, die sie noch haben. Viele Menschen haben Monate oder Jahre in anderen westeuropäischen Ländern verbracht: Wir treffen viele Menschen, die zum Beispiel Deutsch sprechen, weil sie in Deutschland gelebt haben, aber ihre Aufenthaltsgenehmigung nicht verlängert wurde. Wir treffen auch viele Menschen, die in Frankreich um Asyl baten und es nicht bekamen und sich dann entschlossen, den Ärmelkanal zu überqueren.

Auch Schmuggler können eine entscheidende Rolle spielen. Da in Frankreich viele neu ankommende Vertriebene gezwungen sind, auf der Straße zu leben, können Schmuggler sie zu günstigen Bedingungen davon überzeugen, den Ärmelkanal zu überqueren.

Warum hat sich die Situation in den letzten Jahren so verschlechtert?

Seit der Auflösung des „Dschungel von Calais“ im Jahr 2016 bezahlt die britische Regierung Frankreich dafür, die Grenze zu sichern und zu verhindern, dass ein neues Lager errichtet wird. In der Vergangenheit war der Grenzübertritt per Lkw, heimlich in Fracht und Containern, die am meisten genutzte Route. Aufgrund der verstärkten Grenzüberwachung und der Covid-Pandemie, während der fast keine LKWs mehr fuhren, wurde der Seeweg zu einer Alternative.

Im März 2023 schlossen London und Paris ein Abkommen, wonach Großbritannien Frankreich in den nächsten drei Jahren mehr als 540 Millionen Euro zur Verfügung stellen wird, um die Überwachung der französischen Strände zu verstärken und Schleuser zu bekämpfen. Täglich sind 800 Beamte der französischen Nationalpolizei, der Gendarmerie und mobiler Einheiten an der Küste im Einsatz.

Ein zerstörtes Schlauchboot an der Nordküste Frankreichs. Foto: Utopia 56

Bislang haben sich die Ergebnisse dieser Politik als ineffizient erwiesen, und schlimmer noch: Sie führen dazu, dass die Menschen stärker von Schleusern abhängig sind, um sich der Überwachung zu entziehen, und mehr Risiken eingehen. Angesichts der zunehmenden Zahl von Bootsüberfahrten sind die staatlichen Rettungsteams überfordert und verfügen in einem der am stärksten befahrenen Seegebiete der Welt nicht über ausreichende Ressourcen. Im Ärmelkanal sind, anders als im Mittelmeer, außerdem keine unabhängigen Rettungsorganisationen tätig.

Wird sich die Situation mit der neuen britischen Regierung verändern?

Der Wahlsieg von Labour ist für uns natürlich eine gute Nachricht. Er bedeutet das Ende der unsinnigen Einwanderungspolitik der Tories, mit dem Ruanda-Deal als Tiefpunkt. Die Labour-Partei hat die Tories jedoch hauptsächlich kritisiert, weil ihre Politik viel Geld kostet und die Zuwanderung Rekordhöhen erreicht hat, nicht jedoch, weil sie unmenschlich ist und gegen die Genfer Konvention verstößt. Auch die Labour-Partei will Zuwanderung eindämmen und die Sicherheit an den Grenzen stärken. Bis jetzt ist noch nicht klar, wie das genau aussehen soll.

Ende Juli hat die neue Regierung das Resettlement-Programm für afghanische Staatsbürger:innen erweitert, um Familienzusammenführungen zu ermöglichen. Das ist ein Schritt in die richtige Richtung. Es bleibt jedoch sehr komplex abzuschätzen, ob und wie sich dadurch die Situation in Nordfrankreich verändern wird. Eigentlich brauchen wir deutlich umfangreichere Maßnahmen: Die Familienzusammenführung muss beispielsweise für mehr Nationalitäten geöffnet werden. Derzeit sehen wir es nicht als realistisch an, dass diese Regierung sichere Wege für alle Menschen, die unter unseren Schutz fallen, schaffen wird.

Wie hat die Finanzierung durch United4Rescue geholfen?

Unsere Aktivitäten an der Grenze sorgen dafür, die Menschlichkeit zu wahren, Hilfe zu leisten und auf die Politik der Regierungen aufmerksam zu machen, die mitten in Westeuropa schutzlose Menschen gefährden. Wir können diese Arbeit nicht ohne finanzielle Mittel leisten, die wir für den Kauf von Hilfsgütern, die Miete unseres Lagers und den Unterhalt unserer Transporter benötigen. Da immer mehr Menschen versuchen, das Meer zu überqueren und das Gebiet, in dem die Boote zu Wasser gelassen werden, immer größer wird, mussten wir unsere Teams aufstocken und die Häufigkeit und den Umfang unserer Patrouillen erhöhen.

Die ehrenamtlichen Helfer:innen patroullieren entlang an der Küste, wenn die Wetterbedingungen für eine Überfahrt günstig sind. Foto: Célia Cade

Leider hat sich die Finanzierung unseres Projekts, obwohl es so wichtig ist, aufgrund seines sensiblen politischen Charakters als schwierig erwiesen. Gelder aufzutreiben wird noch schwieriger, wenn sich unsere Aktivitäten nicht nur auf Nothilfe beschränken, sondern auch darauf abzielen, die institutionelle Gewalt gegen Vertriebene zu dokumentieren, vor Gericht zu gehen, Journalist:innen und Parlamentarier:innen zu sensibilisieren und die Situation in der Öffentlichkeit zu thematisieren. Es ist aber von entscheidender Bedeutung, dass die französischen und britischen, aber auch die europäischen Bürgerinnen und Bürger davon erfahren, was an der Grenze geschieht, und dass sie die Möglichkeit haben, etwas gegen die unmenschliche Situation zu tun, die seit Jahrzehnten andauert.

Daher sind wir allen Spender:innen dankbar, die diese Aufgabe – wie wir – als lebenswichtig erachten. Da sich die Situation verschlimmert und der Bedarf steigt, stellt die Finanzierung durch United4Rescue sicher, dass wir unsere Präsenz aufrechterhalten und verstärken können, während wir gleichzeitig mit immer mehr Hindernissen konfrontiert werden.

Weitere Informationen:

Donations account

United4Rescue – Gemeinsam Retten e.V.
IBAN: DE93 1006 1006 1111 1111 93
BIC: GENODED1KDB
Bank für Kirche und Diakonie eG – KD-Bank

Donations account

United4Rescue – Gemeinsam Retten e.V.
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