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06.02.2022

Claire Deery: Interview zum Internationalen Tag gegen Genitalverstümmelung

Mehr als 200 Millionen Frauen und Mädchen weltweit sind Opfer von weiblicher Genitalverstümmelung. Millionen Mädchen sind jedes Jahr neu gefährdet, Opfer dieser brutalen Praxis zu werden. Für viele von ihnen ist Flucht der einzige Weg, um der Verstümmelung zu entgehen.

Zum Internationalen Tag gegen Genitalverstümmelung haben wir mit Claire Deery gesprochen. Sie ist Fachanwältin für Migrationsrecht und hat viele betroffene Frauen und Mädchen in Asylverfahren rechtlich vertreten.

Warum ist der Internationale Tag gegen weibliche Genitalverstümmelung wichtig?

Genitalverstümmelung ist in vielen Ländern Afrikas und des Nahen Ostens, aber auch anderswo, immer noch häufige und grausame Praxis. Sie betrifft viele Millionen Frauen weltweit – und auch viele Frauen in Deutschland. 2020 schätzte das Bundesfamilienministerium (BMFSFJ), dass rund 67.000 Frauen und Mädchen von Genitalverstümmelung betroffen sind. Dennoch ist das Thema kaum öffentlich bekannt. Der jährliche Tag gegen Genitalverstümmelung am 6. Februar hilft sehr, das Thema publik zu machen und Aufmerksamkeit zu schaffen. Für alle Aktivist:innen, Unterstützer:innen und nicht zuletzt alle Betroffenen ist es daher ein enorm wichtiger Tag.

Wie viele Frauen sind weltweit betroffen?

Man schätzt, dass es ungefähr 200 Millionen Frauen und Mädchen sind. Allerdings gehe ich davon aus, dass die eigentliche Zahl erheblich höher ist. Die Dunkelziffer ist hoch, weil viele Betroffenen nicht von ihrer Verstümmelung sprechen. Auch in Deutschland erleben wir, dass entsprechende Verletzungen kaum oder spät auffallen. Meist wird FGM mit sozialen Normen, mit Religion oder Traditionen begründet. Der gesellschaftliche Druck spielt also eine wichtige Rolle – und trägt dazu bei, dass kaum über das Problem gesprochen wird.

Sie sprechen von FGM. Was meint der Begriff?

FGM ist englische Abkürzung von ‚female genital mutilation‘, also: weibliche Genitalverstümmelung. Es gibt auch die Abkürzung FGMC, bei der das Wort ‚cutting‘ (schneiden) hinzugefügt wird. Beide Abkürzungen sind international unter Fachleuten üblich. Ich verwende die englische Bezeichnung, weil sie für mich klar benennt, was den meist noch sehr jungen Frauen passiert. Und zwar eine erhebliche Verstümmelung ihrer äußeren Genitalien, meist ohne Betäubung mit unhygienischen Hilfsmitteln wie Rasierklingen, Glasscherben oder Messern.

Was hat das Thema FGM mit Flucht und Asyl zu tun?

Erstaunlich viel! Tatsächlich sind die meisten asylsuchenden Frauen, die in meine Anwaltskanzlei kommen, Betroffene von FGM. Entweder sind sie vor Genitalverstümmelung geflohen oder haben sie als Fluchtgrund angeben. Denn im deutschen Asylrecht gilt Genitalverstümmelung als geschlechtsspezifische Verfolgung, die im Sinne von § 3 Asylgesetz zu einer Flüchtlingsanerkennung führen kann. Es ist daher ganz entscheidend, die Verletzung gynäkologisch dokumentieren zu lassen, um sie im Asylverfahren vorzutragen. Es ist durchaus eine Errungenschaft, dass geschlechtsspezifischer Verfolgung rechtlich so anerkannt wird. Diese Auslegung des Flüchtlingsrechts wurde in Deutschland erst 2005 per Gesetz eindeutig geklärt…

Was beschäftigt Sie persönlich bei diesem Thema am meisten?

Ich begleite sehr viele Frauen und das Erschütterndste ist für mich zu sehen, welche Last sie tagtäglich mit sich herumtragen. Ich kenne viele Frauen, die nur unter Schmerzen Wasserlassen können oder an Infektionen leiden. Frauen, die mit einem psychischen Trauma leben müssen, unfruchtbar geworden sind oder auch jegliches sexuelle Empfinden verloren haben. Betroffen macht mich auch, dass vielen Betroffenen gar nicht klar ist, dass Frauen in Deutschland nicht so verletzt werden und FGM hier strafbar ist. Das zu realisieren, musste ich erst lernen.

Werden auch in Deutschland Mädchen und Frauen Opfer von FGM?

Obgleich es keine gesicherten Zahlen gibt, ist leider davon auszugehen. Weibliche Genitalverstümmelung wurde 2013 in das deutsche Strafgesetzbuch aufgenommen. Allein dieses Strafverfolgungsinteresse zeigt, dass es in Deutschland ein Problem gibt. Eine Herausforderung bleibt jedoch nach wie vor: Die Tat passiert heimlich und auch mitunter auch im Ausland. Das macht Strafverfolgung schwierig. Entsprechend wichtig sind Präventionsversuche. Beispielsweise gibt es einen sogenannten Schutzbrief der Bundesregierung, ein offiziell aussehendes Dokument, das besagt, dass der deutsche Staat Genitalverstümmelung verurteilt und auch im Ausland unter Strafe stellt. Es gibt dieses Dokument, weil die Bundesregierung annimmt, dass Eltern bei einem Besuch der Verwandtschaft im Ausland unter Druck geraten könnten, ihr Kind verstümmeln zu lassen. In solch einer Situation, könnte das Dokument helfen, Kinder zu schützen. In jedem Fall trägt der Schutzbrief zur Aufklärung bei, auch bei den Eltern.

Wo können sich in Deutschland Betroffene informieren? Wo erhalten sie Hilfe?

Am hilfreichsten sind aufmerksame Gynäkologin oder Gynäkologen, die Betroffenen an spezialisierte Beratungsstellen verweisen. In jeder größeren Stadt gibt es solche Beratungsstellen. Sie können die Frauen beraten und begleiten, bis hin zur plastischen Wiederherstellung. Unverzichtbar wichtig sind für mich dazu Frauen, die selbst betroffen sind und bereits länger in Deutschland leben. Sie können als Multiplikatorinnen zuhören, aufklären, helfen. Und zwar in der jeweiligen Heimatsprache und -kultur. So lässt sich das Thema am besten ansprechen.

Gibt es trotz aller Probleme Fortschritte bei der Bekämpfung und dem Verbot von FGM?

Ja, auch wenn es sich in Zahlen kaum messen lässt. Doch das Bewusstsein für das Thema wächst. Allein, dass wir jetzt darüber sprechen, ist wichtig. Und ich merke es auch in Kontakten mit Ämtern und Behörden, wie zum Beispiel dem Bundesamt für Migration und Flüchtlinge. Man ist dort spürbar sensibilisierter als früher, prüft genauer, holt beispielsweise ärztliche Gutachten. Selbst ein wenig mehr Aufmerksamkeit in den Behörden, kann für die Betroffenen einen riesigen Unterschied bedeuten.

Vielen Dank für das Gespräch!

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